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Online-Deliberation: Vier Lehren aus den “Zukunftsdiskursen”

Das Projekt „Unser Gesundheitswesen von morgen: Digitalisierung – Künstliche Intelligenz – Diversität“, welches hier mit dem Kurztitel „Zukunftsdiskurse“ bezeichnet wird, feierte im September 2022 nach 18 Monaten Laufzeit seinen erfolgreichen Abschluss. Im Rahmen des Projektes haben wir fünf Podiumsdiskussionen und zwei Bürgerforen durchgeführt. Dabei haben wir neue Formate der Online-Kommunikation erprobt und weiterentwickelt. Jede Veranstaltung hat sich mit wichtigen Fragen zum Gesundheitswesen der Zukunft beschäftigt und zu ihrer Beantwortung Stimmen aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft zusammengeführt. Die Themen reichten von technologischen Entwicklungen, wie dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Diagnostik, über Pandemie-Apps bis hin zu GPS-Ortungssystemen für Menschen mit Demenz. Alle Zukunftsdiskurse verband dabei die Leitfrage: „Wie sollte das Gesundheitswesen der Zukunft aussehen?“

Aus den zurückliegenden Projekt-Erfahrungen haben wir vier Lehren gezogen. Diese Zusammenfassung soll allen Beteiligten und zukünftig Forschenden nützliche Anhaltspunkte dafür bieten, worauf bei der Durchführung vergleichbarer Formate zu achten ist. Ein ausführlicher Bericht zum Projekt kann auf der Projektwebseite heruntergeladen werden – eine Aufzeichnung der Abschlussveranstaltung ist dort ebenfalls zu finden.

Lehre 1: Die Chancen im Digitalen   

In digitalen Formaten liegt eine große Chance – sowohl für Forschende als auch für eine interessierte Öffentlichkeit. Das wurde besonders während der Online-Beteiligungsformate deutlich, die wir im Rahmen der Zukunftsdiskurse erprobt haben. So wurden die Online-Bürgerforen auch für solche Personen zugänglich, für die sich eine „analoge Teilnahme“ andernfalls nicht mit beruflichen oder familiären Verpflichtungen oder anderen Lebensumständen vereinbaren ließ. Die Möglichkeit der Teilnahme ist dabei nicht nur ein Gewinn für die Personen selbst, sondern bereichert auch den Diskurs. Es erlaubt Forschenden zudem, einen möglichst heterogenen, dem Thema angemessenen Kreis an Teilnehmenden zu adressieren und für deliberative Verfahren zu gewinnen.  

Das digitale Format hebt geographische Beschränkungen auf. Für das Bürgerforum zu GPS-Ortung von Menschen mit Demenz war es möglich, aus Bewerber*innen aus ganz Deutschland auszuwählen und nach demographischen Kriterien auszulosen. Diese breite Zusammensetzung der Teilnehmenden war sowohl inhaltlich, als auch methodisch zentral. Die Bewerbung unseres Bürgerforums erfolgte sowohl über die üblichen Verbreitungswege (E-Mail-Verteiler, Flyer), als auch durch Werbeschaltungen auf sozialen Plattformen (Facebook und Instagram). Die hohen Aufrufzahlen dieser Einblendungen zeigen uns, dass diese entscheidend zur besseren Sichtbarkeit unserer Veranstaltung beigetragen haben.

Eva Kristin Almqvist/shutterstock.com

Lehre 2: Das zivilgesellschaftliche Engagement ist da

Sowohl die hohen Bewerbungszahlen für das Online-Bürgerforum zu GPS-Ortung von Menschen mit Demenz, als auch die rege Beteiligung des Publikums bei den Podien hat uns gezeigt, dass es nicht am zivilgesellschaftlichen Willen mangelt, sich in gesellschaftlich relevante und ethisch kontroverse Debatten einzubringen. Jede unserer insgesamt fünf Podien verwandte zum Abschluss der rund 90-minütigen Veranstaltungen eine halbe Stunde auf Fragen aus dem Publikum. Dabei überstiegen die zahlreichen Nachfragen regelmäßig den zeitlichen Rahmen.

Im Falle der Bürgerforen zeigte sich dieser Mitbestimmungswille noch wesentlich deutlicher. So verfassten die Teilnehmenden zum Abschluss der Bürgerforen ausführliche Handlungsempfehlungen, um diese Vertreter*innen aus dem Gesundheitswesen, der Forschung und der Technikentwicklung vorzustellen. Hier setzte sich das große Engagement aus den Diskussionen untereinander in der Vorstellung der Ergebnisse fort und wurde von den Entgegennehmenden vielfältig anerkannt. Selbst nach Abschluss der beiden Bürgerforen erreichten uns noch Nachfragen interessierter Bürger*innen zu zukünftigen Bürgerforen.

Bürgerbeteiligungsformate fallen also auf einen fruchtbaren Boden. Das zivilgesellschaftliche Engagement ist da, ebenso das Interesse an einer ausgewogenen, informierten Diskussion. Bürgerbeteiligungsformate müssen dazu allerdings initialisiert und finanziert, aber auch niedrigschwellig konzipiert und vor allem reichweitenstark beworben werden. Nur so können sie in der Wahrnehmung potenzieller Bewerber*innen überhaupt auftauchen.

Lehre 3: Komplexe Zusammenhänge erkennen

Die Digitalisierung des Gesundheitswesens kann nur über einem ganzheitlichen Blick verstanden und bewertet werden. Insbesondere in den Online-Podien zeigte sich, wie sehr die verschiedenen Einzelthemen miteinander verflochten sind. Im Anschluss an die erste Podiumsrunde zu Datenschutz in der digitalen Medizin, kam auch in den anderen Podien wiederholt die Frage auf, wem medizinische Daten eigentlich gehören und unter welchen gesetzlichen Rahmenbedingungen sie erhoben werden dürfen. Besonders dringlich stellt sich diese Frage im Falle von datenbasierten KI-Systemen. Diese wurden im Podium „Krank laut KI – Wer übernimmt in Zukunft die Verantwortung für Diagnosen?“ am Beispiel eines Bilderkennungs- sowie eines Tonerkennungsalgorithmus diskutiert. Im Podium „Programmierte (Un-)Gleichbehandlung? Gefahren der Diskriminierung durch KI in der Medizin“ zeigten sich die Gefahren von homogenen Datensätzen, wenn diese bei heterogenen Patient*innen-Gruppen angewendet werden, aber auch die Gefahren von Datensätzen, die Vorurteile enthalten und diese reproduzieren.  

An den genannten Beispielen wird deutlich, dass es nicht nur entscheidend ist, dass solche Fragen gestellt werden, sondern auch an wen sie gerichtet werden. Gerade die interdisziplinäre Zusammensetzung unserer Podien hat durch die jeweiligen facheigenen Perspektiven wiederholt die Verflochtenheit der einzelnen Themen verdeutlicht. Solch ein multiperspektivischer, ganzheitlicher Ansatz könnte auch in der Entwicklung neuer Technologien wertvolle Erkenntnisse liefern, indem verschiedene Interessensgruppen bereits frühzeitig einbezogen werden.

Yummyphotos/shutterstock.com

Lehre 4: Verschiedene Interessensgruppen einbeziehen

Es ist wichtig, auf mehreren Ebenen ein Bewusstsein für die Zusammenhänge der verschiedenen Themen des Projektes zu schaffen. Dabei geht es darum, ein öffentliches Bewusstsein für die technologischen Möglichkeiten und ihre gegenwärtigen Anwendungen im Gesundheitswesen zu wecken – beispielsweise im Falle der Erhebung und Spende von personalisierten Daten. Es geht aber auch um eine Schärfung des Bewusstseins für die konkreten Prozesse in den Anwendungsfeldern von Technologien, zum Beispiel in einem Krankenhaus, aufseiten der Technikentwicklung.

Wo und warum soll die Technologie eingesetzt werden? Was denken die von der Technik direkt oder indirekt Betroffenen dazu (Personal, Patient*innen, Angehörige)? Vereinfacht der technologische Einsatz bestehende Arbeitsprozesse oder verkompliziert er sie? Hier ist die Technikentwicklung in der Pflicht, sich über den Dialog mit den verschiedenen Interessensgruppen zu legitimieren, indem sie die Bedarfe in den jeweiligen Anwendungsfeldern erfragt und gemeinsam Lösungen erarbeitet. Es stellt sich also nicht bloß die Frage nach dem technisch Machbaren, sondern immer auch nach dem gesellschaftlich Sinnvollen und ethisch Vertretbaren.

Am Anfang steht der Dialog

Die Lehren, die wir nach 18 Monaten Projektlaufzeit ziehen, betreffen also zum einen Fragen der Umsetzung und Methodik, zum anderen Fragen der Diskursführung und inhaltlichen Auseinandersetzung mit Aspekten der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Allen Lehren zugrunde liegt die Überzeugung, dass im Zentrum jeder Bemühung der Dialog stehen muss. Das betrifft sowohl den innerwissenschaftlichen Diskurs zwischen den verschiedenen Disziplinen, als auch den Austausch von Akteur*innen aus der Wissenschaft mit zivilgesellschaftlichen Akteur*innen – so wie es verschiedene Formate der Bürgerbeteiligung möglich machen.

Zukunftsdiskurse-Webseite

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Digitale Pandemie-Eindämmung?

Projektrückblick: Gesellschaftliche Akzeptanz von Pandemie-Apps (Projekt COMPASS)

Mit Smartphone Apps gegen die COVID-19-Pandemie

Zu Beginn der COVID-19-Pandemie stand für viele Regierungen fest, dass sie zur Unterstützung der Eindämmung und der Erforschung des neuartigen Coronavirus auf digitale Lösungen setzen wollen. Innerhalb kürzester Zeit wurden im Frühjahr und Sommer 2020 eine Vielzahl an Apps mit verschiedenen Zwecksetzungen für das Smartphone und sogenannte Web-Apps für den Internet-Browser entwickelt. So gibt es beispielsweise Apps mit den Hauptfunktionen Unterstützung des Test-Managements, gesundheitlicher Symptomcheck (‚Tracking‘), Datenweitergabe an die epidemiologische Forschung (‚Datenspende‘) sowie Nachverfolgung von Kontakten mit infizierten Personen (‚Contact Tracing‘). Darunter stellen die vom Robert-Koch-Institut (RKI) im Auftrag der Bundesregierung herausgegebene ‚Corona-Warn-App‘, die ‚Corona-Datenspende-App‘ und neuerdings die Luca-App sicher die bekanntesten Beispiele dar.

Bild: shutterstock.com / Firn

Die Entwicklung der Apps und die Entscheidung für bestimmte App-Eigenschaften ist bis heute von vielschichtigen technischen und ethischen Diskussionen begleitet. Sie betreffen unter anderem solche vielfältigen Fragen: Wie und wo sollen die von einer App erhobenen Daten gespeichert werden? Welche Technologien (GPS, Bluetooth) sollen zur Datenübertragung eingesetzt werden? Inwiefern können die Nutzer*innen die App selbstbestimmt nutzen? Sind die Prozesse der Datenspeicherung und die beteiligten Akteure in der Datenauswertung transparent? Ist die App-Nutzung eine moralische oder soziale Pflicht?

Bewährte Bausteine für und ethische Anforderungen an die App-Entwicklung

Damit bei zukünftigen Pandemien App-Entwickler*innen – zum Beispiel auch von Universitätskliniken – auf miteinander kompatible und erprobte App-Bausteine zurückgreifen können, erscheint es sinnvoll, bewährte Lösungen („best-practices“), technische Empfehlungen zur Konstruktion, regulatorische Anforderungen an Apps sowie ethische Empfehlungen zusammenzutragen. Dieser Aufgabe hat sich das Verbundprojekt Coordination on mobile pandemic apps best practice and solution sharing (COMPASS) mit einem besonderen Fokus auf forschungskompatible Apps gewidmet. Das COMPASS-Projekt ist Teil des 2020 gegründeten Nationalen Forschungsnetzwerk der Universitätsmedizin zu Covid-19 (NUM) und wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Im Rahmen des COMPASS-Projekts war das Institut für Ethik und Geschichte der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) (Prof. Dr. Silke Schicktanz, Lorina Buhr) mit zwei eigenen Studien im Arbeitspaket „Ethische Anforderungen“ beteiligt (Laufzeit: September 2020 bis März 2021). Weitere Beteiligte dieses Arbeitspaketes waren das Universitätsklinikum Würzburg (Prof. Dr. Rüdiger Pryss), das Universitätsklinikum Ulm, sowie das Universitätsklinikum Regensburg.

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Teilstudien am Institut

Eine Teilstudie umfasste die systematische Sichtung der Fachliteratur zu ethischen Empfehlungen zur Entwicklung und Anwendung von Pandemie-bezogenen Smartphone Apps (‚Scoping Review‘). Aus der Literatursichtung konnten eine Reihe von ethischen Handlungsempfehlungen für App-Entwickler*innen gewonnen werden, diese sind auch in die NUM-COMPASS Online-Plattform ‚Wissensbasis Pandemie-App-Entwicklung‘ eingeflossen.

Im Rahmen der zweiten Teilstudie wurde eine repräsentative Bevölkerungsumfrage durchgeführt. Ziel der Umfrage war es, Einstellungen und Akzeptenzpotentiale in der breiten Bevölkerung gegenüber Pandemie-Apps zu erheben, die auf die Datenweitergabe an Forschungsinstitute ausgelegt sind (‚forschungskompatible Pandemie-Apps‘).

Ergebnisse

Die Ergebnisse der Umfrage haben wichtige Erkenntnisse für die Betrachtung ethischer Dimensionen der Nutzung von Pandemie-Apps und die Kommunikation rund um den Einsatz von Pandemie-Apps geliefert. Eine zentrale Einsicht war, dass forschungsorientierte Apps großes Potential haben angenommen zu werden, wenn sie von staatlichen Institutionen herausgegeben werden, da sich eine deutliche Mehrheit der Befragten zur Weitergabe von App-Daten an staatliche Forschungsinstitute bereit zeigte. Dagegen ist das Vertrauen in privatwirtschaftliche Akteure rund um die Herausgabe und Speicherung von Daten von Pandemie-Apps deutlich geringer. Auch gibt es Nachholbedarf in der Aufbereitung und Zugänglichkeit von Informationen rund um Pandemie-Apps und deren Datenverarbeitung. Erste Ergebnisse der Bevölkerungsumfrage sind bereits im Ärzteblatt erschienen. Eine ausführliche Darstellung der Bevölkerungsumfrage und ihrer Ergebnisse sollen nun außerdem in einem internationalen Fachjournal publiziert werden.

Einen herzlichen Dank an Lorina Buhr für die Ausarbeitung dieses Beitrages!