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Online-Deliberation: Vier Lehren aus den “Zukunftsdiskursen”

Das Projekt „Unser Gesundheitswesen von morgen: Digitalisierung – Künstliche Intelligenz – Diversität“, welches hier mit dem Kurztitel „Zukunftsdiskurse“ bezeichnet wird, feierte im September 2022 nach 18 Monaten Laufzeit seinen erfolgreichen Abschluss. Im Rahmen des Projektes haben wir fünf Podiumsdiskussionen und zwei Bürgerforen durchgeführt. Dabei haben wir neue Formate der Online-Kommunikation erprobt und weiterentwickelt. Jede Veranstaltung hat sich mit wichtigen Fragen zum Gesundheitswesen der Zukunft beschäftigt und zu ihrer Beantwortung Stimmen aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft zusammengeführt. Die Themen reichten von technologischen Entwicklungen, wie dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Diagnostik, über Pandemie-Apps bis hin zu GPS-Ortungssystemen für Menschen mit Demenz. Alle Zukunftsdiskurse verband dabei die Leitfrage: „Wie sollte das Gesundheitswesen der Zukunft aussehen?“

Aus den zurückliegenden Projekt-Erfahrungen haben wir vier Lehren gezogen. Diese Zusammenfassung soll allen Beteiligten und zukünftig Forschenden nützliche Anhaltspunkte dafür bieten, worauf bei der Durchführung vergleichbarer Formate zu achten ist. Ein ausführlicher Bericht zum Projekt kann auf der Projektwebseite heruntergeladen werden – eine Aufzeichnung der Abschlussveranstaltung ist dort ebenfalls zu finden.

Lehre 1: Die Chancen im Digitalen   

In digitalen Formaten liegt eine große Chance – sowohl für Forschende als auch für eine interessierte Öffentlichkeit. Das wurde besonders während der Online-Beteiligungsformate deutlich, die wir im Rahmen der Zukunftsdiskurse erprobt haben. So wurden die Online-Bürgerforen auch für solche Personen zugänglich, für die sich eine „analoge Teilnahme“ andernfalls nicht mit beruflichen oder familiären Verpflichtungen oder anderen Lebensumständen vereinbaren ließ. Die Möglichkeit der Teilnahme ist dabei nicht nur ein Gewinn für die Personen selbst, sondern bereichert auch den Diskurs. Es erlaubt Forschenden zudem, einen möglichst heterogenen, dem Thema angemessenen Kreis an Teilnehmenden zu adressieren und für deliberative Verfahren zu gewinnen.  

Das digitale Format hebt geographische Beschränkungen auf. Für das Bürgerforum zu GPS-Ortung von Menschen mit Demenz war es möglich, aus Bewerber*innen aus ganz Deutschland auszuwählen und nach demographischen Kriterien auszulosen. Diese breite Zusammensetzung der Teilnehmenden war sowohl inhaltlich, als auch methodisch zentral. Die Bewerbung unseres Bürgerforums erfolgte sowohl über die üblichen Verbreitungswege (E-Mail-Verteiler, Flyer), als auch durch Werbeschaltungen auf sozialen Plattformen (Facebook und Instagram). Die hohen Aufrufzahlen dieser Einblendungen zeigen uns, dass diese entscheidend zur besseren Sichtbarkeit unserer Veranstaltung beigetragen haben.

Eva Kristin Almqvist/shutterstock.com

Lehre 2: Das zivilgesellschaftliche Engagement ist da

Sowohl die hohen Bewerbungszahlen für das Online-Bürgerforum zu GPS-Ortung von Menschen mit Demenz, als auch die rege Beteiligung des Publikums bei den Podien hat uns gezeigt, dass es nicht am zivilgesellschaftlichen Willen mangelt, sich in gesellschaftlich relevante und ethisch kontroverse Debatten einzubringen. Jede unserer insgesamt fünf Podien verwandte zum Abschluss der rund 90-minütigen Veranstaltungen eine halbe Stunde auf Fragen aus dem Publikum. Dabei überstiegen die zahlreichen Nachfragen regelmäßig den zeitlichen Rahmen.

Im Falle der Bürgerforen zeigte sich dieser Mitbestimmungswille noch wesentlich deutlicher. So verfassten die Teilnehmenden zum Abschluss der Bürgerforen ausführliche Handlungsempfehlungen, um diese Vertreter*innen aus dem Gesundheitswesen, der Forschung und der Technikentwicklung vorzustellen. Hier setzte sich das große Engagement aus den Diskussionen untereinander in der Vorstellung der Ergebnisse fort und wurde von den Entgegennehmenden vielfältig anerkannt. Selbst nach Abschluss der beiden Bürgerforen erreichten uns noch Nachfragen interessierter Bürger*innen zu zukünftigen Bürgerforen.

Bürgerbeteiligungsformate fallen also auf einen fruchtbaren Boden. Das zivilgesellschaftliche Engagement ist da, ebenso das Interesse an einer ausgewogenen, informierten Diskussion. Bürgerbeteiligungsformate müssen dazu allerdings initialisiert und finanziert, aber auch niedrigschwellig konzipiert und vor allem reichweitenstark beworben werden. Nur so können sie in der Wahrnehmung potenzieller Bewerber*innen überhaupt auftauchen.

Lehre 3: Komplexe Zusammenhänge erkennen

Die Digitalisierung des Gesundheitswesens kann nur über einem ganzheitlichen Blick verstanden und bewertet werden. Insbesondere in den Online-Podien zeigte sich, wie sehr die verschiedenen Einzelthemen miteinander verflochten sind. Im Anschluss an die erste Podiumsrunde zu Datenschutz in der digitalen Medizin, kam auch in den anderen Podien wiederholt die Frage auf, wem medizinische Daten eigentlich gehören und unter welchen gesetzlichen Rahmenbedingungen sie erhoben werden dürfen. Besonders dringlich stellt sich diese Frage im Falle von datenbasierten KI-Systemen. Diese wurden im Podium „Krank laut KI – Wer übernimmt in Zukunft die Verantwortung für Diagnosen?“ am Beispiel eines Bilderkennungs- sowie eines Tonerkennungsalgorithmus diskutiert. Im Podium „Programmierte (Un-)Gleichbehandlung? Gefahren der Diskriminierung durch KI in der Medizin“ zeigten sich die Gefahren von homogenen Datensätzen, wenn diese bei heterogenen Patient*innen-Gruppen angewendet werden, aber auch die Gefahren von Datensätzen, die Vorurteile enthalten und diese reproduzieren.  

An den genannten Beispielen wird deutlich, dass es nicht nur entscheidend ist, dass solche Fragen gestellt werden, sondern auch an wen sie gerichtet werden. Gerade die interdisziplinäre Zusammensetzung unserer Podien hat durch die jeweiligen facheigenen Perspektiven wiederholt die Verflochtenheit der einzelnen Themen verdeutlicht. Solch ein multiperspektivischer, ganzheitlicher Ansatz könnte auch in der Entwicklung neuer Technologien wertvolle Erkenntnisse liefern, indem verschiedene Interessensgruppen bereits frühzeitig einbezogen werden.

Yummyphotos/shutterstock.com

Lehre 4: Verschiedene Interessensgruppen einbeziehen

Es ist wichtig, auf mehreren Ebenen ein Bewusstsein für die Zusammenhänge der verschiedenen Themen des Projektes zu schaffen. Dabei geht es darum, ein öffentliches Bewusstsein für die technologischen Möglichkeiten und ihre gegenwärtigen Anwendungen im Gesundheitswesen zu wecken – beispielsweise im Falle der Erhebung und Spende von personalisierten Daten. Es geht aber auch um eine Schärfung des Bewusstseins für die konkreten Prozesse in den Anwendungsfeldern von Technologien, zum Beispiel in einem Krankenhaus, aufseiten der Technikentwicklung.

Wo und warum soll die Technologie eingesetzt werden? Was denken die von der Technik direkt oder indirekt Betroffenen dazu (Personal, Patient*innen, Angehörige)? Vereinfacht der technologische Einsatz bestehende Arbeitsprozesse oder verkompliziert er sie? Hier ist die Technikentwicklung in der Pflicht, sich über den Dialog mit den verschiedenen Interessensgruppen zu legitimieren, indem sie die Bedarfe in den jeweiligen Anwendungsfeldern erfragt und gemeinsam Lösungen erarbeitet. Es stellt sich also nicht bloß die Frage nach dem technisch Machbaren, sondern immer auch nach dem gesellschaftlich Sinnvollen und ethisch Vertretbaren.

Am Anfang steht der Dialog

Die Lehren, die wir nach 18 Monaten Projektlaufzeit ziehen, betreffen also zum einen Fragen der Umsetzung und Methodik, zum anderen Fragen der Diskursführung und inhaltlichen Auseinandersetzung mit Aspekten der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Allen Lehren zugrunde liegt die Überzeugung, dass im Zentrum jeder Bemühung der Dialog stehen muss. Das betrifft sowohl den innerwissenschaftlichen Diskurs zwischen den verschiedenen Disziplinen, als auch den Austausch von Akteur*innen aus der Wissenschaft mit zivilgesellschaftlichen Akteur*innen – so wie es verschiedene Formate der Bürgerbeteiligung möglich machen.

Zukunftsdiskurse-Webseite

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Innovatives Online-Bürgerforum zu “GPS-Ortung von Menschen mit Demenz” stellt Ergebnisse vor

Über insgesamt fünf Termine im Mai und Juni 2022 diskutierten 17 interessierte und engagierte Bürger*innen die Chancen und Risiken rund um den Einsatz von GPS-Ortungssystemen für Menschen mit Demenz. Diese Diskussion hat auch vor dem Hintergrund steigender Erkrankungszahlen eine große Relevanz – laut der Deutschen Alzheimer Gesellschaft könnte die Zahl von Menschen mit Demenz in Deutschland bis 2050 von 1,6 Millionen Menschen (Stand: 2020) auf bis zu 2,8 Millionen anwachsen.1 

Häufige Symptome von Demenz umfassen verschiedene Formen der Gedächtnisstörung, eine Beeinträchtigung der Auffassungsgabe, der Sprache, des Denkvermögens oder auch der Orientierung.2 Bei circa 60 Prozent aller Betroffenen zeigt sich zudem eine sogenannte Hinlauftendenz, die sich in einem ziellosen umherwandern äußern kann. Dies stellt nicht nur eine Gefahr für die Betroffenen selbst dar, sondern setzt auch Angehörige und Pflegepersonal unter enormen Stress.3 Hierfür stellt sich die Frage nach dem Einsatz von GPS-Ortung für Menschen mit Demenz.

Unter Ortungssystemen für Menschen mit Demenz versteht man technische Hilfsmittel zur Positionsbestimmung der jeweiligen Person. Mithilfe dieser Technologie, die beispielsweise in Uhren, Smartphones oder Kleidungsstücken integriert werden kann, können Menschen mit Demenz zum einen eigenständig ihre Position bestimmen, zum anderen ermöglicht die Technik anderen Personen – wie beispielsweise Pflegekräften oder Angehörigen – die Bestimmung des Aufenthaltsortes des Trägers oder der Trägerin. Ob und wie eine solche Technologie eingesetzt werden sollte, ist eine Frage, die nach einer offenen, vielstimmigen Auseinandersetzung verlangt, für die das Bürgerforum den organisatorischen Rahmen bieten sollte.

Digitales Bürgerforum

Anders als bei vielen anderen Versuchen der aktiven Bürgerbeteiligung in Deutschland, fand das Bürgerforum ausschließlich online statt: „Wir hoffen, dass der erfolgreiche Abschluss unserer Veranstaltung richtungsweisend dafür sein kann, partizipative Verfahren wie dieses künftig auch in digitalen Formaten zu etablieren“, betont darum Projektleiterin Prof. Dr. Silke Schicktanz vom Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der UMG. Gemeinsam mit Prof. Dr. Mark Schweda von der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und Dr. Ruben Sakowsky vom Institut für Ethik und Geschichte der Medizin moderierte sie die Online-Veranstaltung.

Digitale Formate wie dieses erweisen sich nicht nur als Corona-sichere Alternative zum Präsenzformat, sondern erlauben darüber hinaus die Begegnung von Menschen mit verschiedensten Hintergründen. „Bei unseren Teilnehmenden handelte es sich um eine Zufallsauswahl unter Berücksichtigung von Alter, Geschlecht und Beruf“, so Dr. Ruben Sakowsky, „es kam eine bunte Gruppe mit ausgewogenem Geschlechterverhältnis aus verschiedenen Altersgruppen und mit unterschiedlichen beruflichen Hintergründen zusammen.“ Im digitalen Plenum waren Personen zwischen 18 und 67 Jahren und aus ganz Deutschland vertreten. Darunter Angestellte, Rentner*innen, Arbeitssuchende, Schüler*innen, Student*innen und Selbstständige.

Gruppenbild aus dem Bürgerforum. Von links nach rechts: Ruben Sakowsky (Moderation), Isabell Strobl (Technik), Sabrina Krohm (Technik), Silke Schicktanz und Mark Schweda (Moderation), Frank Schulze, Horst Gronke, Reinhildt Kühnst, Rosalie Filbert, Johannes Neumann, Denise Doering, Carina Landschoof, Anna Orlowa, Judith Kunze, Thorsten Börsch, Gilbert Hövel, Christina Matt, Alexandra Zoller, Anna-Lena Baasner, Lennart Darlau, Thomas Simoneit und Niolas Bouton.

Eine informierte Diskussion 

Wie schon beim Anfang diesen Jahres abgeschlossenen Bürgerforum zum Thema Feedback bei Pandemie-Apps, wurden die Teilnehmenden durch drei Expert*innen aus verschiedenen Fachbereichen ins Themengebiet eingeführt. Dr. Herlind Megges, Referentin in der Abteilung „Demografischer Wandel, Ältere Menschen, Wohlfahrtspflege“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, erläuterte am ersten Tag des Bürgerforums, was GPS-Ortungssysteme eigentlich sind, wofür sie eingesetzt werden und welche Herausforderungen sich durch ihren Einsatz stellen. Zudem erklärte sie, was man überhaupt unter Demenz versteht und warum das Thema Ortung hierfür eine Rolle spielen könnte.

Am zweiten Tag sprach Prof. Dr. Manfred Hülsken-Giesler, Berufspädagoge und Pflegewissenschaftler von der Universität Osnabrück, über die Chancen und Nutzen des Einsatzes von Ortungstechnologien für Personen mit Demenz, aber auch für Familienangehörige und professionelle Pflegekräfte. Diese Ausführungen ergänzte Prof. Dr. Arne Manzeschke, Leiter des Instituts für Pflegeforschung, Gerontologie und Ethik an der Evangelischen Hochschule Nürnberg, um die Risiken und Grenzen des Einsatzes solcher Technologien aus ethischer und anthropologischer Perspektive.

Dr. Herlind Megges, Prof. Dr. Manfred Hülsken-Giesler und Prof. Dr. Arne Manzeschke (Quellen: privat; privat; Andrea Wismath)

Nach jedem Vortrag bekamen die Teilnehmenden die Möglichkeit, mit den Expert*innen ins Gespräch zu kommen und offene Fragen zu klären. Im Anschluss daran diskutierten die Bürger*innen in Breakout-Räumen der Videokonferenz-Software Zoom untereinander über das Für und Wider von GPS-Ortung bei Demenzfällen. Um das komplexe Thema möglichst effektiv zu bearbeiten, arbeiteten die Teilnehmenden im Plenum vier Schwerpunkte heraus, die in die Handlungsempfehlung einfließen sollten: ethisch-moralische Betrachtungen; Vorsorge und alternative Ansätze; Datenschutz, Datensicherheit und Privatsphäre; und praktisch-technische Handhabung der Geräte. Anschließend wurden diese Themen in kleineren Arbeitsgruppen vertieft und später im Gesamtdokument zusammengeführt. Mithilfe der Software Miro, einem browserbasierten, interaktiven Whiteboard, visualisierten die Teilnehmenden dabei ihren aktuellen Arbeitsstand. So arbeiteten sie mittels verschiedener Online-Tools zwar räumlich getrennt, aber dennoch gemeinsam an strittigen Fragestellungen.

Übergabe an Entscheidungsträger*innen aus Gesundheitswesen und Technikentwicklung

Am Ende dieser insgesamt fünftägigen Auseinandersetzung ist eine 15-seitige Handlungsempfehlung zum Einsatz von Ortungssystemen für Menschen mit Demenz entstanden, die am 12 Juli 2022 – ebenfalls online – an Organisationen aus Gesundheitswesen und Technikentwicklung übergeben wurde. Vertreten wurden diese durch Saskia Weiß, Geschäftsführerin der Deutschen Alzheimer Gesellschaft (DAlzG), Prof. Dr. Hermann Requardt von der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech), Heidrun Mollenkopf von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen (BAGSO) und Martina Röder, Vorsitzende des Deutschen Pflegeverbandes (DPV).

Die Gäste bedankten sich für die Stellungnahme der Bürger*innen zu diesem wichtigen Thema und spiegelten, dass viele der Überlegungen und Forderungen an ihr Tagesgeschäft anknüpften. Heidrun Mollenkopf von der BAGSO begrüßte beispielsweise die vielschichtige Auseinandersetzung, die im Rahmen des Bürgerforums stattgefunden habe, „insbesondere, dass sie wirklich die Person in den Mittelpunkt stellen, ihr Recht auf Selbstbestimmung, auf soziale Teilhabe und dass sie auch sehr ausführlich die Ambivalenzen und die möglichen Konflikte diskutieren“. Einige Interessenskonflikte, beispielsweise von Forschung und Datenschutz, sowie Abweichungen von Anspruch und Realität wurden in den Statements der Entgegennehmenden ebenfalls deutlich.

Die komplette Übergabe im Video finden Sie hier.

Die Übergabe der Handlungsempfehlung erfolgte via Zoom. Von links nach rechts: Isabell Strobl, Sabrina Krohm, Ruben Sakowsky, Anna-Lena Baasner, Reinhildt Kühnst, Silke Schicktanz, Judith Kunze, Saskia Weiß, Hermann Requardt, Heidrun Mollenkopf, Horst Gronke, Rosalie Filbert, Thorsten Börsch, Martina Röder, Denise Doering und Alexandra Zoller.

Freiwilligkeit & Aufklärung 

Die Bürger*innen kamen zu dem Schluss, dass sie den Einsatz von Ortungssystemen für Menschen mit Demenz tendenziell befürworten. Allerdings fordern sie eine absolute Freiwilligkeit der Maßnahmen. So müsse vermieden werden, dass Menschen indirekt zu einer Ortung gezwungen werden, indem Heimplätze beispielsweise nur durch eine entsprechende Zustimmung vergeben werden. Zudem betonen die Teilnehmenden in ihrer Handlungsempfehlung den zentralen Stellenwert von breiter gesellschaftlicher Aufklärung, sowohl über Demenz als auch über die Möglichkeiten und Grenzen technischer Assistenzsysteme. Nur so könne gewährleistet werden, dass Menschen mit Demenz im Idealfall in einer Vorausverfügung selbst bestimmen können, ob sie einer Ortung zustimmen. Saskia Weiß, Geschäftsführerin der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, führte an, dass dies ihrer Erfahrung nach in der Praxis bisher leider selten der Fall gewesen sei. Martina Röder vom Deutschen Pflegeverband betonte, dass die Forderung der Bürger*innen hier mit den Wünschen der Pflegenden und Pflegeinstitutionen übereinstimme.

Offene Fragen zum Datenschutz

Weiterhin müsse laut der Teilnehmenden der Datenschutz im Rahmen der deutschen oder europäischen Datenschutzverordnungen gewährleistet sein und ein Missbrauch der sensiblen Ortungsdaten unbedingt vorgebeugt werden. Dieser starke Fokus auf Fragen des Datenschutzes wurde in den Stellungnahmen der Interessenvertreter*innen zum Teil mit Überraschung aufgenommen. So erklärte Saskia Weiß, dass das Thema Datenschutz in den Beratungsgesprächen der DAlzG mit Betroffenen und Angehörigen zumeist keine große Rolle spiele. Vielmehr stünde für die Angehörigen in erster Linie die Sorge um die erkrankte Person im Vordergrund.

Prof. Dr. Hermann Requardt (acatech) wies zudem darauf hin, dass die Nutzerdaten von Betroffenen dazu dienen könnten, die Diagnostik und die Therapie von Demenzerkrankungen zu verbessern. „Wir werden das Krankheitsbild nur dann wissenschaftlich beherrschen lernen, wenn wir sehr komplexe und vollständige Daten haben“, so Requardt. Insbesondere die Früherkennung sei nur dann möglich, wenn viele Datenstrukturen miteinander kombiniert werden können.

Konsens in der Ausrichtung

Großer Konsens bestand dagegen in der prinzipiellen Ausrichtung aller Anstrengungen auf das Wohlergehen der Betroffenen. Die Teilnehmerin Anna-Lena Baasner betonte in der Vorstellung der Handlungsempfehlung, dass es vor allem darum gehen müsse, Menschen mit Demenz die maximale Teilhabe an unserer Gesellschaft zu ermöglichen. Martina Röder vom Deutschen Pflegeverband unterstütze diese Position: „Wir von der Seite der Pflegeorganisation oder der Verbände stehen eindeutig dazu, dass wir Patienten- und Bewohnersicherheit im Mittelpunkt der Verbesserung der Pflegequalität sehen möchten.“

Auch in den Kriterien, die zur Bewertung von Technologie angelegt werden können, fand sich eine große Schnittmenge zwischen Teilnehmenden und Interessensvertreter*innen. Die Teilnehmerin Judith Kunze stellte sowohl die technische Praktikabilität als auch die Verlässlichkeit der verwendeten Geräte heraus. Ortungsgeräte müssten leicht bedienbar und in hohem Maße verlässlich sein. Das betreffe neben der Handhabung auch die Wartung. Um die Technik möglichst sicher zu machen, wären auch sogenannte Sturzsender erwägenswert. Diese senden ein Notsignal aus, sobald das Gerät einen Sturz registriert hat, ohne dabei medizinische Daten zu speichern. Dies deckt sich laut Saskia Weiß auch mit einem vom DAlzG entwickelten Kriterienkatalog zur Bewertung technischer Assistenzsysteme, der neben der Funktionalität auch die Möglichkeit zur individuellen Anpassung sowie die rechtliche Sicherheit aufführt.

Blick in die Zukunft

Professorin Schicktanz, die die Übergabe gemeinsam mit Dr. Ruben Sakowsky moderierte, zeigte sich zum Abschluss der Veranstaltung beeindruckt von den Diskussionsergebnissen der Teilnehmenden, denen es gelungen sei, „in kurzer Zeit eine ganze Reihe sehr wichtiger Punkte auszuarbeiten und dabei die verschiedenen moralischen Konflikte deutlich zu machen.“ Sie merkte aber auch an, dass es wichtig sei, die aufgeworfenen Fragen in Zukunft weiter zu bearbeiten. Das Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der UMG möchte dabei als vermittelnde Institution dienen, indem sie Betroffene und Angehörige, Organisationen und Verbände, aber auch Presse und Öffentlichkeit miteinander ins Gespräch bringt. Dazu wird das Team um Professorin Schicktanz gezielt auf Medien und Pressestellen zugehen, um die Handlungsempfehlung ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Auch eine wissenschaftliche Auswertung des Bürgerforums, insbesondere mit Blick auf das Online-Format, steht noch aus und soll andere Forschende dazu ermutigen, vergleichbare Verfahren der Bürgerbeteiligung zu erproben.

Hintergrund:

Das Bürgerforum ist Teil des Online-Beteiligungsprojektes „Unser Gesundheitswesen von morgen: Digitalisierung – Künstliche Intelligenz – Diversität“ des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin der UMG. Das Projekt bezieht die Öffentlichkeit ein und will Expert*innen und die interessierte Öffentlichkeit in eine gesellschaftliche Diskussion über Chancen und Risiken eines digitalisierten Gesundheitssystems bringen. Es wird als „Zukunftsdiskurs“ bis September 2022 durch das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur aus Mitteln des Niedersächsischen Vorab gefördert. Die Leitung des Projekts hat Prof. Dr. Silke Schicktanz vom Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der UMG. Das Online-Bürgerforum fand in Kooperation mit Prof. Dr. Mark Schweda von der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg statt.

Quellen:
[1] Deutsche Alzheimer Gesellschaft e. V. Selbsthilfe Demenz: Informationsblatt 1 (2020) >www.deutsche-alzheimer.de/fileadmin/Alz/pdf/factsheets/infoblatt1_haeufigkeit_demenzerkrankungen_dalzg.pdf<
[2] Bundesgesundheitsministerium, Demenz-Ratgeber. >https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/pflege/online-ratgeber-demenz/krankheitsbild-und-verlauf.html<
[3] Alzheimer’s Association: Wandering. >https://www.alz.org/help-support/caregiving/stages-behaviors/wandering<