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Online-Deliberation: Vier Lehren aus den “Zukunftsdiskursen”

Das Projekt „Unser Gesundheitswesen von morgen: Digitalisierung – Künstliche Intelligenz – Diversität“, welches hier mit dem Kurztitel „Zukunftsdiskurse“ bezeichnet wird, feierte im September 2022 nach 18 Monaten Laufzeit seinen erfolgreichen Abschluss. Im Rahmen des Projektes haben wir fünf Podiumsdiskussionen und zwei Bürgerforen durchgeführt. Dabei haben wir neue Formate der Online-Kommunikation erprobt und weiterentwickelt. Jede Veranstaltung hat sich mit wichtigen Fragen zum Gesundheitswesen der Zukunft beschäftigt und zu ihrer Beantwortung Stimmen aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft zusammengeführt. Die Themen reichten von technologischen Entwicklungen, wie dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Diagnostik, über Pandemie-Apps bis hin zu GPS-Ortungssystemen für Menschen mit Demenz. Alle Zukunftsdiskurse verband dabei die Leitfrage: „Wie sollte das Gesundheitswesen der Zukunft aussehen?“

Aus den zurückliegenden Projekt-Erfahrungen haben wir vier Lehren gezogen. Diese Zusammenfassung soll allen Beteiligten und zukünftig Forschenden nützliche Anhaltspunkte dafür bieten, worauf bei der Durchführung vergleichbarer Formate zu achten ist. Ein ausführlicher Bericht zum Projekt kann auf der Projektwebseite heruntergeladen werden – eine Aufzeichnung der Abschlussveranstaltung ist dort ebenfalls zu finden.

Lehre 1: Die Chancen im Digitalen   

In digitalen Formaten liegt eine große Chance – sowohl für Forschende als auch für eine interessierte Öffentlichkeit. Das wurde besonders während der Online-Beteiligungsformate deutlich, die wir im Rahmen der Zukunftsdiskurse erprobt haben. So wurden die Online-Bürgerforen auch für solche Personen zugänglich, für die sich eine „analoge Teilnahme“ andernfalls nicht mit beruflichen oder familiären Verpflichtungen oder anderen Lebensumständen vereinbaren ließ. Die Möglichkeit der Teilnahme ist dabei nicht nur ein Gewinn für die Personen selbst, sondern bereichert auch den Diskurs. Es erlaubt Forschenden zudem, einen möglichst heterogenen, dem Thema angemessenen Kreis an Teilnehmenden zu adressieren und für deliberative Verfahren zu gewinnen.  

Das digitale Format hebt geographische Beschränkungen auf. Für das Bürgerforum zu GPS-Ortung von Menschen mit Demenz war es möglich, aus Bewerber*innen aus ganz Deutschland auszuwählen und nach demographischen Kriterien auszulosen. Diese breite Zusammensetzung der Teilnehmenden war sowohl inhaltlich, als auch methodisch zentral. Die Bewerbung unseres Bürgerforums erfolgte sowohl über die üblichen Verbreitungswege (E-Mail-Verteiler, Flyer), als auch durch Werbeschaltungen auf sozialen Plattformen (Facebook und Instagram). Die hohen Aufrufzahlen dieser Einblendungen zeigen uns, dass diese entscheidend zur besseren Sichtbarkeit unserer Veranstaltung beigetragen haben.

Eva Kristin Almqvist/shutterstock.com

Lehre 2: Das zivilgesellschaftliche Engagement ist da

Sowohl die hohen Bewerbungszahlen für das Online-Bürgerforum zu GPS-Ortung von Menschen mit Demenz, als auch die rege Beteiligung des Publikums bei den Podien hat uns gezeigt, dass es nicht am zivilgesellschaftlichen Willen mangelt, sich in gesellschaftlich relevante und ethisch kontroverse Debatten einzubringen. Jede unserer insgesamt fünf Podien verwandte zum Abschluss der rund 90-minütigen Veranstaltungen eine halbe Stunde auf Fragen aus dem Publikum. Dabei überstiegen die zahlreichen Nachfragen regelmäßig den zeitlichen Rahmen.

Im Falle der Bürgerforen zeigte sich dieser Mitbestimmungswille noch wesentlich deutlicher. So verfassten die Teilnehmenden zum Abschluss der Bürgerforen ausführliche Handlungsempfehlungen, um diese Vertreter*innen aus dem Gesundheitswesen, der Forschung und der Technikentwicklung vorzustellen. Hier setzte sich das große Engagement aus den Diskussionen untereinander in der Vorstellung der Ergebnisse fort und wurde von den Entgegennehmenden vielfältig anerkannt. Selbst nach Abschluss der beiden Bürgerforen erreichten uns noch Nachfragen interessierter Bürger*innen zu zukünftigen Bürgerforen.

Bürgerbeteiligungsformate fallen also auf einen fruchtbaren Boden. Das zivilgesellschaftliche Engagement ist da, ebenso das Interesse an einer ausgewogenen, informierten Diskussion. Bürgerbeteiligungsformate müssen dazu allerdings initialisiert und finanziert, aber auch niedrigschwellig konzipiert und vor allem reichweitenstark beworben werden. Nur so können sie in der Wahrnehmung potenzieller Bewerber*innen überhaupt auftauchen.

Lehre 3: Komplexe Zusammenhänge erkennen

Die Digitalisierung des Gesundheitswesens kann nur über einem ganzheitlichen Blick verstanden und bewertet werden. Insbesondere in den Online-Podien zeigte sich, wie sehr die verschiedenen Einzelthemen miteinander verflochten sind. Im Anschluss an die erste Podiumsrunde zu Datenschutz in der digitalen Medizin, kam auch in den anderen Podien wiederholt die Frage auf, wem medizinische Daten eigentlich gehören und unter welchen gesetzlichen Rahmenbedingungen sie erhoben werden dürfen. Besonders dringlich stellt sich diese Frage im Falle von datenbasierten KI-Systemen. Diese wurden im Podium „Krank laut KI – Wer übernimmt in Zukunft die Verantwortung für Diagnosen?“ am Beispiel eines Bilderkennungs- sowie eines Tonerkennungsalgorithmus diskutiert. Im Podium „Programmierte (Un-)Gleichbehandlung? Gefahren der Diskriminierung durch KI in der Medizin“ zeigten sich die Gefahren von homogenen Datensätzen, wenn diese bei heterogenen Patient*innen-Gruppen angewendet werden, aber auch die Gefahren von Datensätzen, die Vorurteile enthalten und diese reproduzieren.  

An den genannten Beispielen wird deutlich, dass es nicht nur entscheidend ist, dass solche Fragen gestellt werden, sondern auch an wen sie gerichtet werden. Gerade die interdisziplinäre Zusammensetzung unserer Podien hat durch die jeweiligen facheigenen Perspektiven wiederholt die Verflochtenheit der einzelnen Themen verdeutlicht. Solch ein multiperspektivischer, ganzheitlicher Ansatz könnte auch in der Entwicklung neuer Technologien wertvolle Erkenntnisse liefern, indem verschiedene Interessensgruppen bereits frühzeitig einbezogen werden.

Yummyphotos/shutterstock.com

Lehre 4: Verschiedene Interessensgruppen einbeziehen

Es ist wichtig, auf mehreren Ebenen ein Bewusstsein für die Zusammenhänge der verschiedenen Themen des Projektes zu schaffen. Dabei geht es darum, ein öffentliches Bewusstsein für die technologischen Möglichkeiten und ihre gegenwärtigen Anwendungen im Gesundheitswesen zu wecken – beispielsweise im Falle der Erhebung und Spende von personalisierten Daten. Es geht aber auch um eine Schärfung des Bewusstseins für die konkreten Prozesse in den Anwendungsfeldern von Technologien, zum Beispiel in einem Krankenhaus, aufseiten der Technikentwicklung.

Wo und warum soll die Technologie eingesetzt werden? Was denken die von der Technik direkt oder indirekt Betroffenen dazu (Personal, Patient*innen, Angehörige)? Vereinfacht der technologische Einsatz bestehende Arbeitsprozesse oder verkompliziert er sie? Hier ist die Technikentwicklung in der Pflicht, sich über den Dialog mit den verschiedenen Interessensgruppen zu legitimieren, indem sie die Bedarfe in den jeweiligen Anwendungsfeldern erfragt und gemeinsam Lösungen erarbeitet. Es stellt sich also nicht bloß die Frage nach dem technisch Machbaren, sondern immer auch nach dem gesellschaftlich Sinnvollen und ethisch Vertretbaren.

Am Anfang steht der Dialog

Die Lehren, die wir nach 18 Monaten Projektlaufzeit ziehen, betreffen also zum einen Fragen der Umsetzung und Methodik, zum anderen Fragen der Diskursführung und inhaltlichen Auseinandersetzung mit Aspekten der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Allen Lehren zugrunde liegt die Überzeugung, dass im Zentrum jeder Bemühung der Dialog stehen muss. Das betrifft sowohl den innerwissenschaftlichen Diskurs zwischen den verschiedenen Disziplinen, als auch den Austausch von Akteur*innen aus der Wissenschaft mit zivilgesellschaftlichen Akteur*innen – so wie es verschiedene Formate der Bürgerbeteiligung möglich machen.

Zukunftsdiskurse-Webseite

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Intelligente Assistenztechnologien — die Zukunft der Versorgung von Menschen mit Demenz?

Demenz – eine gesellschaftliche und persönliche Herausforderung

Demenz ist eine globale Herausforderung. Mehr als 55 Millionen Menschen sind weltweit betroffen. 1,3 Billionen Dollar kostet ihre Versorgung — eine Zahl mit 12 Nullen! Das ist beinahe das Dreifache des deutschen Bundeshaushalts. Und in den kommenden Jahren werden diese Zahlen weiter steigen: Die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass bis 2050 weltweit über 130 Millionen Menschen von Demenz betroffen sein werden. Die Kosten werden sich bis 2030 verdoppeln.

Die großen Zahlen und die noch größeren Herausforderungen auf gesellschaftlicher Ebene dürfen nicht darüber hinwegtäuschen: Demenz ist vor allem und zuerst eine persönliche Herausforderung. Demenz ist für die Betroffenen mit einem fortschreitenden und unumkehrbaren Verlust ihrer geistigen Fähigkeiten verbunden: Die Vergesslichkeit nimmt zu, man verläuft sich immer öfters, und auch alltägliche Handlungen wie Kochen und Körperpflege fallen zunehmend schwerer. Auch für die Angehörigen ist die Demenz eines nahestehenden Menschen herausfordernd: Durch die Versorgung der Betroffenen im eigenen Haus, in der eigenen Wohnung leidet das eigene Sozial- und Berufsleben, finanzielle Belastungen nehmen zu und vor allem der psychische Stress setzt viele Angehörige unter Druck. Der Umzug in eine Pflegeeinrichtungen wird trotzdem von vielen Betroffenen und Angehörigen solange wie möglich hinausgezögert.

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Dabei können schon heute viele Menschen mit Demenz nicht mehr von ihren jüngeren Verwandten versorgt werden: Junge Menschen müssen häufig für Ausbildung, Studium, Beruf ihre Heimat verlassen und ziehen in weit entfernte Regionen. Gleichzeitig arbeiten — gerade in Deutschland! — zu wenige Menschen als Pflegefachkraft: zu unattraktiv, zu schlecht bezahlt, zu belastend ist der Beruf.

Intelligente Assistenztechnologien – die große Hoffnung

Wie kann vor diesem Hintergrund sichergestellt werden, dass Menschen mit Demenz auch in Zukunft gut versorgt werden? Politik und Gesellschaft setzen große Hoffnungen in sogenannte intelligente Assistenztechnologien. Schon heute gibt es eine Vielzahl solcher technischen Geräte: Mit GPS-Tracking-Systeme soll man Menschen mit Demenz, die sich verlaufen haben, leichter und schneller wiederfinden; moderne Navigationssysteme können den Betroffenen helfen, sich selbst wieder zu orientieren; das sogenannte Ambient Assisted Living unterstützt durch verbaute Sensoren die Alltagsbewältigung im eigenen Wohnumfeld; Roboter können Menschen mit Demenz in ihren täglichen Aufgaben unterstützen, an die Einnahme von Medikamenten erinnern und die pflegenden Angehörigen oder Fachkräfte bei körperlich anstrengenden Tätigkeiten entlasten. An vielen weiteren Technologien mit unterschiedlichen Einsatzgebieten wird derzeit geforscht.

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Sie alle verfolgen mehrere Ziele: Die Lebensqualität von Menschen mit Demenz soll verbessert werden; die Angehörigen und beruflich Pflegenden sollen unterstützt werden; nicht zuletzt soll die Pflege effizienter gestaltet und damit das öffentliche Versorgungssystem finanziell entlastet werden. Die Hoffnungen sind so groß wie die Herausforderungen. Doch bislang gibt es kaum wissenschaftliche Erkenntnisse über die Rahmenbedingungen und Folgen der Nutzung dieser intelligenten Assistenztechnologien. Können sie die Hoffnungen erfüllen und die gesteckten Ziele erreichen? Welche Chancen birgt ihr Einsatz und welche Risiken gehen mit ihm einher?

EIDEC – Ethische und soziale Aspekte Co-intelligenter Monitoring- und Asssistenzsysteme in der Demenzpflege

Um auf diese Fragen Antworten zu finden, fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung das Projekt EIDEC (Ethische und soziale Aspekte Co-intelligenter Monitoring- und Assistenzsysteme in der Demenzpflege). Von 2019 bis Ende 2022 forschen wir interdisziplinär zu den Rahmenbedingungen, Chancen und Risiken intelligenter Assistenztechnologien in der Demenzpflege. Interdisziplinär bedeutet in diesem Fall, dass unser Team aus Ethiker*innen und Sozialwissenschafter*innen, aus Informatiker*innen und Ingenieurwissenschaftler*innen besteht.

In etwa 60 Interviews haben wir Menschen mit Demenz, ihre Angehörigen, beruflich Pflegende und Expert*innen aus Deutschland dazu befragt, welche Auswirkungen ihrer Meinung nach der Einsatz intelligenter Technologien in der Versorgung von Menschen mit Demenz hat. Allein mit den interviewten Expert*innen kamen 20 Interviews zusammen, die wir anschließend ausgewertet haben. Die Teilnehmer*innen kamen dabei aus den Bereichen der Technikforschung und -entwicklung, der Freien Wohlfahrtspflege, den Pflegeversicherungen, der Gesundheits- und Pflegepolitik, sowie der Interessenvertretung beruflich Pflegender. So konnten wir einen tiefen Einblick in die aktuellen Bewertungen deutschsprachiger Schlüsselpersonen von intelligenten  Assistenztechnologien für die Demenzpflege gewinnen.

Digitale Pflege im Funkloch? – Rahmenbedingungen für intelligente Assistenztechnologien

Viele der Expert*innen haben betont, dass die Digitalisierung bereits den Alltag der allermeisten Menschen bestimmt: Wir nutzen Smartphones, kaufen online ein, treffen uns mit Freunden in Videochats und arbeiten digital von zuhause aus. Vieles davon gilt immer mehr auch für ältere Menschen. Die Bereitschaft, digitale Technologien und Systeme zu nutzen steigt. Gleichzeitig findet vieles, was die Digitalisierung ermöglicht, noch im Funkloch statt — oder eben nicht. Das kann man doppelt verstehen: Die Expert*innen betonten erstens, dass gerade in ländlichen Regionen und in Pflegeeinrichtungen die Anbindung an das Internet bislang verbesserungsbedürftig ist. Schnelles Internet ist für viele intelligente Technologien eine Grundvoraussetzung, in den meisten ländlichen Regionen aber einfach nicht vorhanden. In vielen Pflegeeinrichtungen haben die Bewohner*innen nicht einmal Zugriff auf ein WLAN.

Das Funkloch ist aber auch in einem übertragenen Sinn zu verstehen: Obwohl die Bereitschaft, digitale Technologien zu nutzen steigt, sind die notwendigen Kompetenzen dafür immer noch ungleich verteilt. Die Expert*innen stellten zweitens fest, dass gerade ältere Menschen bei der Nutzung von Smartphones und noch komplexeren Systemen Unterstützung brauchen. Zumindest am Anfang. Nicht jedem stehen dafür jüngere Angehörige zur Verfügung. Aber auch Informations- und Bildungsangebote zu digitalen Technologien sind bislang noch eine Ausnahme. Der Mangel sowohl an schnellem und stabilem Internet als auch an Informations- und Bildungsangeboten führt dazu, dass viele, gerade ältere Menschen heute noch von den Möglichkeiten der Digitalisierung ausgeschlossen sind. — Gerade wenn es um den Bereich der pflegerischen Versorgung geht.

Selbstbestimmt, überwacht, vereinsamt? – Chancen und Risiken für Menschen mit Demenz

In den Interviews haben wir die Expert*innen aber nicht nur nach den Rahmenbedingungen gefragt. Wir wollten auch wissen, wie sie die Chancen und Risiken intelligenter Assistenzsysteme für die Betroffenen einschätzen. Die Expert*innen hoben eine Chance besonders hervor: Intelligente Assistenzsystemen könnten dazu beitragen, dass Menschen mit Demenz länger in ihrem eigenen Wohnumfeld leben können. Das entspricht auch dem Wunsch der meisten älteren Menschen. Sensorsysteme, die Bewegungen registrieren, den Schlafrhythmus auswerten und Stürze erkennen können, können die Sicherheit der Betroffenen erhöhen. Digitale Erinnerungssysteme und unterstützende Roboter können die Betroffenen unabhängiger von Angehörigen und beruflich Pflegenden machen. Durch Videokonferenzsysteme können entfernt lebende Angehörige den Kontakt halten, und auch der Austausch mit Pflegefachkräften und Ärzt*innen wird erleichtert.

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Die Expert*innen wiesen aber auch auf Risiken hin: Um die genannten Chancen zu verwirklichen, müssen intelligente Assistenztechnologien viele Daten sammeln und auswerten; das könnte von vielen Menschen als Überwachung wahrgenommen und abgelehnt werden. Zugleich stellen sich Fragen nach der Sicherheit der Daten und Zugriffsberechtigungen. Außerdem befürchteten einige Expert*innen, dass die technisch gewährleistete Unabhängigkeit zu einer Vereinsamung der Betroffenen führen könnte: Weil diese eh sicher im eigenen Wohnumfeld sind, könnten Angehörige und beruflich Pflegende seltener vorbeikommen und der Kontakt nur noch digital, über Bildschirme stattfinden.

Wirklich entlastet? – Chancen und Risiken für Angehörige und beruflich Pflegende

Neben den Betroffenen selbst, sind auch die Angehörigen und beruflich Pflegenden wichtige Personen in der Versorgung von Menschen mit Demenz. Deshalb haben wir die Expert*innen auch nach den Chancen und Risiken intelligenter Assistenzsysteme für diese Gruppen gefragt. Dabei stellte sich heraus, dass die Expert*innen die größte Chance für pflegende Angehörige und Pflegefachkräfte in der Entlastung sehen: Der Einsatz intelligenter Assistenztechnologien kann sowohl zum körperlichen als auch psychischen Wohlbefinden dieser Gruppen beitragen. Roboter können bei der Umlagerung von bettlägerigen Menschen mit Demenz helfen oder bei der anstrengenden Körperpflege unterstützen; Sicherheitssysteme können dazu beitragen, dass Angehörige auch ihr eigenes Sozial- und Berufsleben pflegen und nicht 24 Stunden am Tag zuhause bleiben müssen; Videokonferenzsysteme ermöglichen es entfernt lebenden Verwandten, auch auf Distanz Kontakt zu den Betroffenen zu halten, und Pflegefachkräften auch im eng getakteten Alltag kurzfristig für ein Gespräch verfügbar zu sein.

Bild: shutterstock.com // FXQuadro

Andererseits bergen die intelligenten Assistenztechnologien auch Risiken für Angehörige und beruflich Pflegende. Die Überwachung der Betroffenen könnte sich so befürchteten einige Expert*innen, zu einer Sucht entwickeln. Angehörige und Pflegefachkräfte würden dann jederzeit wissen wollen, was der Mensch mit Demenz macht und wo er sich aufhält. Das würde dann neuen Stress auslösen und auch die Beziehung zwischen den Beteiligten belasten. Zusätzlich könnten durch die intelligente Assistenztechnologien selbst neue Belastungen entstehen: Anschaffung, Instandhaltung und Nutzung sind teilweise sehr teuer; gerade im privaten Umfeld bedeutet das zusätzlich finanzielle Belastungen. Für Pflegefachkräfte könnte der vermehrte Einsatz zu einer grundlegenden Veränderung des Berufs führen: Sie könnten sich in Zukunft mehr um die Technologien als um Menschen kümmern müssen. Im schlimmsten Fall würde die Wartung der Technologien ein zusätzlicher Arbeitsinhalt werden, den die Pflegefachkräfte zusätzlich in ihrem eng getakteten Arbeitsalltag bewältigen müssen.

Infrastruktur, Information, Selbstbestimmung! – Ethische Schlussfolgerungen

Eine Aufgabe der Ethik ist es festzustellen, welche moralischen Einstellungen in der Gesellschaft verbreitet sind, und sie zu bedenken. Mit Blick auf intelligente Assistenzsysteme in der Demenzpflege haben wir das in unserem Projekt durch Interviews mit Menschen mit Demenz, ihren Angehörigen und Pflegenden, sowie Expert*innen getan. Eine weitere Aufgabe der Ethik ist es, aus diesen Ergebnissen normative Schlussfolgerungen zu ziehen. In unserem Fall heißt das: Ethiker*innen überlegen, wie der Einsatz intelligenter Assistenzsysteme so gestaltet werden kann, dass er für die beteiligten Personen gut ist und zu einem guten Leben, einer guten Versorgung von Menschen mit Demenz beitragen kann:

  1. Es ist wichtig, dass alle Menschen mit Demenz Zugang zu schnellem und stabilem Internet haben. Nur so können sie von den Chancen und Möglichkeiten digitaler Assistenztechnologien profitieren. Um dies zu erreichen, muss sowohl in ländlichen Regionen als auch in Pflegeeinrichtungen die digitale Infrastruktur ausgebaut und gefördert werden.
  2. Es ist wichtig, dass Menschen mit Demenz wissen, welche Chancen und Risiken mit dem Einsatz intelligenter Assistenztechnologien in ihrer Versorgung verbunden sind und dass sie wissen, wie man die Technologien sinnvoll nutzt. Nur mit diesem Wissen können sie vernünftig entscheiden, ob und in welchem Umfang sie eine Assistenztechnologie nutzen wollen — oder nicht. Um dies zu erreichen, müssen Bildungs- und Informationsangebote geschaffen und gestärkt werden. Diese müssen niedrigschwellig, lokal und zugehend seien.
  3. Es ist wichtig, dass Menschen mit Demenz selbst entscheiden, welche Assistenztechnologien sie in welchem Umfang und in welcher Art und Weise nutzen wollen. Nur so kann sichergestellt werden, dass die Technologien dem Wohl der Betroffenen dienen und nicht aus ökonomischen Gründen oder zum Vorteil anderer Personen eingesetzt werden. Um dies zu erreichen, müssen sowohl in der häuslichen als auch der institutionellen Pflege Entscheidungsstrukturen etabliert werden, die den Bedarfen und Wünschen der Menschen mit Demenz Priorität einräumen. Wenn Betroffene sich gegen den Einsatz intelligenter Assistenzsysteme entscheiden, muss dies respektiert werden.

Um die Chancen von intelligenten Assistenztechnologien zu verwirklichen und ihre Risiken möglichst klein zu halten, muss sich ihr Einsatz zuerst und vor allem an den Bedarfen und Wünschen der Betroffenen ausrichten. Außerdem müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die es jeder Betroffenen und jedem Betroffenen ermöglichen, an den Chancen der Digitalisierung teilzuhaben.

Wenn dies gewährleistet ist, können intelligente Assistenztechnologien einen wertvollen Beitrag zur Versorgung von Menschen mit Demenz und ihrer Lebensqualität leisten.

EIDEC Projekt-Website

Vielen Dank an Johannes Welsch für die Ausarbeitung dieses Beitrags!

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Innovatives Online-Bürgerforum zu “GPS-Ortung von Menschen mit Demenz” stellt Ergebnisse vor

Über insgesamt fünf Termine im Mai und Juni 2022 diskutierten 17 interessierte und engagierte Bürger*innen die Chancen und Risiken rund um den Einsatz von GPS-Ortungssystemen für Menschen mit Demenz. Diese Diskussion hat auch vor dem Hintergrund steigender Erkrankungszahlen eine große Relevanz – laut der Deutschen Alzheimer Gesellschaft könnte die Zahl von Menschen mit Demenz in Deutschland bis 2050 von 1,6 Millionen Menschen (Stand: 2020) auf bis zu 2,8 Millionen anwachsen.1 

Häufige Symptome von Demenz umfassen verschiedene Formen der Gedächtnisstörung, eine Beeinträchtigung der Auffassungsgabe, der Sprache, des Denkvermögens oder auch der Orientierung.2 Bei circa 60 Prozent aller Betroffenen zeigt sich zudem eine sogenannte Hinlauftendenz, die sich in einem ziellosen umherwandern äußern kann. Dies stellt nicht nur eine Gefahr für die Betroffenen selbst dar, sondern setzt auch Angehörige und Pflegepersonal unter enormen Stress.3 Hierfür stellt sich die Frage nach dem Einsatz von GPS-Ortung für Menschen mit Demenz.

Unter Ortungssystemen für Menschen mit Demenz versteht man technische Hilfsmittel zur Positionsbestimmung der jeweiligen Person. Mithilfe dieser Technologie, die beispielsweise in Uhren, Smartphones oder Kleidungsstücken integriert werden kann, können Menschen mit Demenz zum einen eigenständig ihre Position bestimmen, zum anderen ermöglicht die Technik anderen Personen – wie beispielsweise Pflegekräften oder Angehörigen – die Bestimmung des Aufenthaltsortes des Trägers oder der Trägerin. Ob und wie eine solche Technologie eingesetzt werden sollte, ist eine Frage, die nach einer offenen, vielstimmigen Auseinandersetzung verlangt, für die das Bürgerforum den organisatorischen Rahmen bieten sollte.

Digitales Bürgerforum

Anders als bei vielen anderen Versuchen der aktiven Bürgerbeteiligung in Deutschland, fand das Bürgerforum ausschließlich online statt: „Wir hoffen, dass der erfolgreiche Abschluss unserer Veranstaltung richtungsweisend dafür sein kann, partizipative Verfahren wie dieses künftig auch in digitalen Formaten zu etablieren“, betont darum Projektleiterin Prof. Dr. Silke Schicktanz vom Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der UMG. Gemeinsam mit Prof. Dr. Mark Schweda von der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und Dr. Ruben Sakowsky vom Institut für Ethik und Geschichte der Medizin moderierte sie die Online-Veranstaltung.

Digitale Formate wie dieses erweisen sich nicht nur als Corona-sichere Alternative zum Präsenzformat, sondern erlauben darüber hinaus die Begegnung von Menschen mit verschiedensten Hintergründen. „Bei unseren Teilnehmenden handelte es sich um eine Zufallsauswahl unter Berücksichtigung von Alter, Geschlecht und Beruf“, so Dr. Ruben Sakowsky, „es kam eine bunte Gruppe mit ausgewogenem Geschlechterverhältnis aus verschiedenen Altersgruppen und mit unterschiedlichen beruflichen Hintergründen zusammen.“ Im digitalen Plenum waren Personen zwischen 18 und 67 Jahren und aus ganz Deutschland vertreten. Darunter Angestellte, Rentner*innen, Arbeitssuchende, Schüler*innen, Student*innen und Selbstständige.

Gruppenbild aus dem Bürgerforum. Von links nach rechts: Ruben Sakowsky (Moderation), Isabell Strobl (Technik), Sabrina Krohm (Technik), Silke Schicktanz und Mark Schweda (Moderation), Frank Schulze, Horst Gronke, Reinhildt Kühnst, Rosalie Filbert, Johannes Neumann, Denise Doering, Carina Landschoof, Anna Orlowa, Judith Kunze, Thorsten Börsch, Gilbert Hövel, Christina Matt, Alexandra Zoller, Anna-Lena Baasner, Lennart Darlau, Thomas Simoneit und Niolas Bouton.

Eine informierte Diskussion 

Wie schon beim Anfang diesen Jahres abgeschlossenen Bürgerforum zum Thema Feedback bei Pandemie-Apps, wurden die Teilnehmenden durch drei Expert*innen aus verschiedenen Fachbereichen ins Themengebiet eingeführt. Dr. Herlind Megges, Referentin in der Abteilung „Demografischer Wandel, Ältere Menschen, Wohlfahrtspflege“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, erläuterte am ersten Tag des Bürgerforums, was GPS-Ortungssysteme eigentlich sind, wofür sie eingesetzt werden und welche Herausforderungen sich durch ihren Einsatz stellen. Zudem erklärte sie, was man überhaupt unter Demenz versteht und warum das Thema Ortung hierfür eine Rolle spielen könnte.

Am zweiten Tag sprach Prof. Dr. Manfred Hülsken-Giesler, Berufspädagoge und Pflegewissenschaftler von der Universität Osnabrück, über die Chancen und Nutzen des Einsatzes von Ortungstechnologien für Personen mit Demenz, aber auch für Familienangehörige und professionelle Pflegekräfte. Diese Ausführungen ergänzte Prof. Dr. Arne Manzeschke, Leiter des Instituts für Pflegeforschung, Gerontologie und Ethik an der Evangelischen Hochschule Nürnberg, um die Risiken und Grenzen des Einsatzes solcher Technologien aus ethischer und anthropologischer Perspektive.

Dr. Herlind Megges, Prof. Dr. Manfred Hülsken-Giesler und Prof. Dr. Arne Manzeschke (Quellen: privat; privat; Andrea Wismath)

Nach jedem Vortrag bekamen die Teilnehmenden die Möglichkeit, mit den Expert*innen ins Gespräch zu kommen und offene Fragen zu klären. Im Anschluss daran diskutierten die Bürger*innen in Breakout-Räumen der Videokonferenz-Software Zoom untereinander über das Für und Wider von GPS-Ortung bei Demenzfällen. Um das komplexe Thema möglichst effektiv zu bearbeiten, arbeiteten die Teilnehmenden im Plenum vier Schwerpunkte heraus, die in die Handlungsempfehlung einfließen sollten: ethisch-moralische Betrachtungen; Vorsorge und alternative Ansätze; Datenschutz, Datensicherheit und Privatsphäre; und praktisch-technische Handhabung der Geräte. Anschließend wurden diese Themen in kleineren Arbeitsgruppen vertieft und später im Gesamtdokument zusammengeführt. Mithilfe der Software Miro, einem browserbasierten, interaktiven Whiteboard, visualisierten die Teilnehmenden dabei ihren aktuellen Arbeitsstand. So arbeiteten sie mittels verschiedener Online-Tools zwar räumlich getrennt, aber dennoch gemeinsam an strittigen Fragestellungen.

Übergabe an Entscheidungsträger*innen aus Gesundheitswesen und Technikentwicklung

Am Ende dieser insgesamt fünftägigen Auseinandersetzung ist eine 15-seitige Handlungsempfehlung zum Einsatz von Ortungssystemen für Menschen mit Demenz entstanden, die am 12 Juli 2022 – ebenfalls online – an Organisationen aus Gesundheitswesen und Technikentwicklung übergeben wurde. Vertreten wurden diese durch Saskia Weiß, Geschäftsführerin der Deutschen Alzheimer Gesellschaft (DAlzG), Prof. Dr. Hermann Requardt von der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech), Heidrun Mollenkopf von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen (BAGSO) und Martina Röder, Vorsitzende des Deutschen Pflegeverbandes (DPV).

Die Gäste bedankten sich für die Stellungnahme der Bürger*innen zu diesem wichtigen Thema und spiegelten, dass viele der Überlegungen und Forderungen an ihr Tagesgeschäft anknüpften. Heidrun Mollenkopf von der BAGSO begrüßte beispielsweise die vielschichtige Auseinandersetzung, die im Rahmen des Bürgerforums stattgefunden habe, „insbesondere, dass sie wirklich die Person in den Mittelpunkt stellen, ihr Recht auf Selbstbestimmung, auf soziale Teilhabe und dass sie auch sehr ausführlich die Ambivalenzen und die möglichen Konflikte diskutieren“. Einige Interessenskonflikte, beispielsweise von Forschung und Datenschutz, sowie Abweichungen von Anspruch und Realität wurden in den Statements der Entgegennehmenden ebenfalls deutlich.

Die komplette Übergabe im Video finden Sie hier.

Die Übergabe der Handlungsempfehlung erfolgte via Zoom. Von links nach rechts: Isabell Strobl, Sabrina Krohm, Ruben Sakowsky, Anna-Lena Baasner, Reinhildt Kühnst, Silke Schicktanz, Judith Kunze, Saskia Weiß, Hermann Requardt, Heidrun Mollenkopf, Horst Gronke, Rosalie Filbert, Thorsten Börsch, Martina Röder, Denise Doering und Alexandra Zoller.

Freiwilligkeit & Aufklärung 

Die Bürger*innen kamen zu dem Schluss, dass sie den Einsatz von Ortungssystemen für Menschen mit Demenz tendenziell befürworten. Allerdings fordern sie eine absolute Freiwilligkeit der Maßnahmen. So müsse vermieden werden, dass Menschen indirekt zu einer Ortung gezwungen werden, indem Heimplätze beispielsweise nur durch eine entsprechende Zustimmung vergeben werden. Zudem betonen die Teilnehmenden in ihrer Handlungsempfehlung den zentralen Stellenwert von breiter gesellschaftlicher Aufklärung, sowohl über Demenz als auch über die Möglichkeiten und Grenzen technischer Assistenzsysteme. Nur so könne gewährleistet werden, dass Menschen mit Demenz im Idealfall in einer Vorausverfügung selbst bestimmen können, ob sie einer Ortung zustimmen. Saskia Weiß, Geschäftsführerin der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, führte an, dass dies ihrer Erfahrung nach in der Praxis bisher leider selten der Fall gewesen sei. Martina Röder vom Deutschen Pflegeverband betonte, dass die Forderung der Bürger*innen hier mit den Wünschen der Pflegenden und Pflegeinstitutionen übereinstimme.

Offene Fragen zum Datenschutz

Weiterhin müsse laut der Teilnehmenden der Datenschutz im Rahmen der deutschen oder europäischen Datenschutzverordnungen gewährleistet sein und ein Missbrauch der sensiblen Ortungsdaten unbedingt vorgebeugt werden. Dieser starke Fokus auf Fragen des Datenschutzes wurde in den Stellungnahmen der Interessenvertreter*innen zum Teil mit Überraschung aufgenommen. So erklärte Saskia Weiß, dass das Thema Datenschutz in den Beratungsgesprächen der DAlzG mit Betroffenen und Angehörigen zumeist keine große Rolle spiele. Vielmehr stünde für die Angehörigen in erster Linie die Sorge um die erkrankte Person im Vordergrund.

Prof. Dr. Hermann Requardt (acatech) wies zudem darauf hin, dass die Nutzerdaten von Betroffenen dazu dienen könnten, die Diagnostik und die Therapie von Demenzerkrankungen zu verbessern. „Wir werden das Krankheitsbild nur dann wissenschaftlich beherrschen lernen, wenn wir sehr komplexe und vollständige Daten haben“, so Requardt. Insbesondere die Früherkennung sei nur dann möglich, wenn viele Datenstrukturen miteinander kombiniert werden können.

Konsens in der Ausrichtung

Großer Konsens bestand dagegen in der prinzipiellen Ausrichtung aller Anstrengungen auf das Wohlergehen der Betroffenen. Die Teilnehmerin Anna-Lena Baasner betonte in der Vorstellung der Handlungsempfehlung, dass es vor allem darum gehen müsse, Menschen mit Demenz die maximale Teilhabe an unserer Gesellschaft zu ermöglichen. Martina Röder vom Deutschen Pflegeverband unterstütze diese Position: „Wir von der Seite der Pflegeorganisation oder der Verbände stehen eindeutig dazu, dass wir Patienten- und Bewohnersicherheit im Mittelpunkt der Verbesserung der Pflegequalität sehen möchten.“

Auch in den Kriterien, die zur Bewertung von Technologie angelegt werden können, fand sich eine große Schnittmenge zwischen Teilnehmenden und Interessensvertreter*innen. Die Teilnehmerin Judith Kunze stellte sowohl die technische Praktikabilität als auch die Verlässlichkeit der verwendeten Geräte heraus. Ortungsgeräte müssten leicht bedienbar und in hohem Maße verlässlich sein. Das betreffe neben der Handhabung auch die Wartung. Um die Technik möglichst sicher zu machen, wären auch sogenannte Sturzsender erwägenswert. Diese senden ein Notsignal aus, sobald das Gerät einen Sturz registriert hat, ohne dabei medizinische Daten zu speichern. Dies deckt sich laut Saskia Weiß auch mit einem vom DAlzG entwickelten Kriterienkatalog zur Bewertung technischer Assistenzsysteme, der neben der Funktionalität auch die Möglichkeit zur individuellen Anpassung sowie die rechtliche Sicherheit aufführt.

Blick in die Zukunft

Professorin Schicktanz, die die Übergabe gemeinsam mit Dr. Ruben Sakowsky moderierte, zeigte sich zum Abschluss der Veranstaltung beeindruckt von den Diskussionsergebnissen der Teilnehmenden, denen es gelungen sei, „in kurzer Zeit eine ganze Reihe sehr wichtiger Punkte auszuarbeiten und dabei die verschiedenen moralischen Konflikte deutlich zu machen.“ Sie merkte aber auch an, dass es wichtig sei, die aufgeworfenen Fragen in Zukunft weiter zu bearbeiten. Das Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der UMG möchte dabei als vermittelnde Institution dienen, indem sie Betroffene und Angehörige, Organisationen und Verbände, aber auch Presse und Öffentlichkeit miteinander ins Gespräch bringt. Dazu wird das Team um Professorin Schicktanz gezielt auf Medien und Pressestellen zugehen, um die Handlungsempfehlung ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Auch eine wissenschaftliche Auswertung des Bürgerforums, insbesondere mit Blick auf das Online-Format, steht noch aus und soll andere Forschende dazu ermutigen, vergleichbare Verfahren der Bürgerbeteiligung zu erproben.

Hintergrund:

Das Bürgerforum ist Teil des Online-Beteiligungsprojektes „Unser Gesundheitswesen von morgen: Digitalisierung – Künstliche Intelligenz – Diversität“ des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin der UMG. Das Projekt bezieht die Öffentlichkeit ein und will Expert*innen und die interessierte Öffentlichkeit in eine gesellschaftliche Diskussion über Chancen und Risiken eines digitalisierten Gesundheitssystems bringen. Es wird als „Zukunftsdiskurs“ bis September 2022 durch das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur aus Mitteln des Niedersächsischen Vorab gefördert. Die Leitung des Projekts hat Prof. Dr. Silke Schicktanz vom Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der UMG. Das Online-Bürgerforum fand in Kooperation mit Prof. Dr. Mark Schweda von der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg statt.

Quellen:
[1] Deutsche Alzheimer Gesellschaft e. V. Selbsthilfe Demenz: Informationsblatt 1 (2020) >www.deutsche-alzheimer.de/fileadmin/Alz/pdf/factsheets/infoblatt1_haeufigkeit_demenzerkrankungen_dalzg.pdf<
[2] Bundesgesundheitsministerium, Demenz-Ratgeber. >https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/pflege/online-ratgeber-demenz/krankheitsbild-und-verlauf.html<
[3] Alzheimer’s Association: Wandering. >https://www.alz.org/help-support/caregiving/stages-behaviors/wandering<

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Gut beraten… im Frühstadium einer Alzheimer-Erkrankung oder bei einer Demenz-Vorhersage

„Was man nicht im Kopf hat, hat man in den Beinen“ sagt man sich selbst mit einem kleinen Lächeln, wenn man erneut das Portemonnaie, Schlüssel oder Handy vergessen hat und sich wieder auf den Rückweg macht. Doch was ist, wenn sich diese Vorfälle häufen und nicht nur Kleinigkeiten vergessen werden, sondern auch alltägliche Routinen plötzlich schwerer fallen? Was ist, wenn man solche Gedächtnisstörungen bei Angehörigen beobachtet?

Shutterstock / Naumova Marina

Viele Menschen machen sich Sorgen um ihr Gedächtnis und befürchten, dass sie in der Zukunft eine Demenz entwickeln könnten. Manchmal sind es auch die Angehörigen, die erste Gedächtnisstörungen bei ihren Partnern, Eltern oder anderen Verwandten bemerken. Sie vermuten, dass eine beginnende Demenz vorliegt.

Fachärztliche Informationen zum Thema sind manchmal aber schwer zu bekommen. Leicht zugängliche Beratungsangebote sind bisher selten. Deshalb möchten wir mit dem Informations- und Beratungstelefon ein neues Angebot für Personen mit beginnenden Gedächtnisstörungen und besorgte Angehörige schaffen. Diese können im Telefonat Fragen stellen und sich über mögliche Testverfahren oder Anlaufstellen informieren.

Das Informations- und Beratungstelefon ist Teil des Modellprojekts „Gut beraten: Neue multimodale und standardisierte Beratungsmodelle für Menschen im Frühstadium einer Alzheimer-Erkrankung bzw. im Rahmen einer Demenzvorhersage“. Dieses Projekt ist eine Kooperation des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin (J. Perry und Prof. Dr. S. Schicktanz) der Universitätsmedizin Göttingen (UMG), der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie (Dr. K. Radenbach und Prof. Dr. J. Wiltfang) der UMG, und des IEGUS – Instituts für europäische Gesundheits- und Sozialwirtschaft (B. Herten). Gefördert wird das Projekt durch die Deutsche Alzheimergesellschaft e.V. Selbsthilfe Demenz. Unsere Projektwebsite wird über das Informations- und Beratungstelefon hinaus, allgemeinzugängliche Informationen bieten und Antworten auf mögliche erste Fragen geben: https://beratung-demenz.de.

Demenz und Diagnostik zur Feststellung von Gedächtnisstörungen

Demenz ist eine fortschreitende Erkrankung, bei der das Gedächtnis und andere geistige Fähigkeiten wie z. B. Lernen, Sprache, Orientierung, Entscheidungskompetenz oder Planungs- und Urteilsvermögen beeinträchtigt sein können. Im Verlauf kann es zu deutlichen Einschränkungen der selbstständigen Lebensführung kommen. Betroffene sind dann auf Unterstützung und Pflege angewiesen.

Eigene Illustration aufbauend auf Informationen aus Schneider et al. 2007 und https://www.alz.org/alzheimers-dementia/what-is-dementia

Trotz intensiver Forschung gibt es bislang noch keine Aussicht auf Heilung. Die Behandlung einer Alzheimer-Demenz konzentriert sich daher auf eine medikamentöse Therapie zur Verlangsamung des Krankheitsverlaufs. Begleitend wird oft versucht, Verhalten und Emotionen der Betroffenen positiv zu beeinflussen. Eine Unterstützung durch die Familie, sowie, wenn nötig, professionelle Pflege, sind ebenfalls wichtig.

Man geht derzeit davon aus, dass bisherige Medikamente in einem zu weit fortgeschrittenen Erkrankungsstadium ansetzen. Aktuell fokussiert die Forschung daher auf die Verbesserung der Vorhersage und Früherkennung von Demenz. So hofft man, Therapien in Zukunft früher beginnen zu können oder neue Therapieansätze zu finden, die viel früher in die molekularen Mechanismen der Erkrankungen eingreifen als bislang. Durch z. B. Untersuchungen des Nervenwassers und nuklearmedizinische Untersuchungen sind erste Anzeichen der Alzheimer-Erkrankung mittlerweile Jahre bis Jahrzehnte vor Beginn einer Demenz nachweisbar. Erste Gedächtnisstörungen lassen sich schon in Vorstadien einer Demenz mit neuropsychologischen Verfahren nachweisen.

Diese frühe Erkennung kann sinnvoll sein, um beispielsweise beim Übergang in eine Demenz rechtzeitig mit einer medikamentösen Therapie zu beginnen. Es können auch weitere Faktoren, die den Verlauf der Erkrankung beeinflussen können, positiv verändert werden. Dazu gehören z. B. gesunde Ernährung, geistige und körperliche Aktivität, die Behandlung von Herzkreislauferkrankungen und eine gute Hörgeräteversorgung bei Hörminderung.

Frühe Diagnosen sollten aber gut überlegt sein: Ein auffälliger Befund kann das Leben einer Person von Grund auf ändern. Das betrifft Bereiche wie die weitere Lebensplanung und Versorgungsentscheidungen – gerade bei Personen, die noch berufstätig sind – aber auch die Beziehungen zu Angehörigen und Freunden, die eigene Lebensqualität und mögliche psychische Belastungen, die durch das bloße Wissen über einen auffälligen Befund entstehen können.

Das Angebot des Informations- und Beratungstelefons

Ein professionelles Beratungsangebot kann Betroffenen und Angehörigen dabei helfen, eine selbstbestimmte Entscheidung zu treffen, ob und in welchem Umfang diagnostische Untersuchungen sinnvoll und hilfreich sind. Die Beratung kann weiter dabei helfen passende Anlaufstellen zu finden. Daher bieten wir im Projekt seit dem 25.01.2021 zweimal pro Woche ein Informations- und Beratungstelefon an, das Anrufende genau darin unterstützen soll.

Bild: Ruben Sakowsky

Eine Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie mit langjähriger Erfahrung in der Behandlung von Menschen mit Gedächtnisstörungen, bietet am Telefon, das an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der UMG angesiedelt ist, erste Hilfestellungen für die Anrufenden. In den Gesprächen wird aber weder eine Diagnose gestellt, noch erfolgt eine Fernbehandlung. Das Ziel ist es, betroffene Personen in ihrem Anliegen individuell und bedürfnisgerecht zu unterstützen und Informationen sowie Zugang zu geeigneten Anlaufstellen zur Verfügung zu stellen. Die Beratung ist kostenfrei und richtet sich an Menschen aus Göttingen und dem Göttinger Umland.

Befragung individueller Bedürfnisse und Erfahrung zur Verbesserung des Beratungsangebots

Ziel des Projekts ist es, das Beratungsangebot für Betroffene einer demenziellen Erkrankung im Frühstadium oder im Rahmen einer Demenzvorhersage sowie für deren Angehörige nachhaltig zu verbessern. Daher werden die Beratungsgespräche auf freiwilliger Basis auch wissenschaftlich evaluiert: Wenn die anrufende Person damit einverstanden ist, wird nach der Beratung Kontakt zu einer Mitarbeiterin des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin der UMG hergestellt. Diese befragt die Person zu folgenden Punkten:

  • Wie wurde das telefonische Beratungsgespräch empfunden?
  • Was wurde aus dem Gespräch mitgenommen oder was hat eventuell gefehlt?
  • Wie wurde generell die Qualität der Beratung empfunden?
  • Welche Verbesserungsvorschläge gibt es für das Angebot?
Bild: Ruben Sakowsky

Die Zeit für das etwa 30-minütige Gespräch kann selbst gewählt werden. Die Gespräche finden telefonisch statt. Selbstverständlich werden alle erhobenen, persönlichen Daten der Anrufenden im gesamten Projekt streng vertraulich und den Richtlinien des Datenschutzgesetzes entsprechend behandelt. Die Inhalte der Gespräche werden nicht an Dritte weitergegeben.

Das Informations- und Beratungstelefon für Personen mit beginnenden Gedächtnisstörungen und besorgte Angehörige steht jeweils montags von 10.00-12.00 Uhr und donnerstags von 14.00-16.00 Uhr unter der Telefonnummer 0551 – 39 62122 als Anlaufstelle zur Verfügung. Wenn Sie sich Sorgen um Ihr eigenes Gedächtnis machen oder um das einer angehörigen Person, rufen Sie an – wir unterstützen Sie gerne.

Erste Ergebnisse

Eine erste Zwischenbilanz zeigt, dass Anrufende, die sich um ihr eigenes Gedächtnis sorgen, vorrangig vor einer Verschlimmerung der Symptome und eines möglichen Autonomieverlusts Angst haben. Sie erhoffen sich durch eine eventuelle Diagnostik Sicherheit sowie neue Möglichkeiten, um den Verlauf zu verlangsamen. Anrufende empfinden die telefonische Beratung als erleichternd, aber werden zum Teil auch in ihren Ängsten bestätigt. Besorgte Angehörige geben insbesondere einen hohen Informations- und Beratungsbedarf an. Angehörige machen sich vorwiegend Sorgen um den Zugang zu Gedächtnisambulanzen bzw. um fehlende Kooperation seitens ihrer betroffenen Angehörigen. Sie sehen besonders in COVID-19-Zeiten einen Mangel an Trainingsangeboten für Angehörige sowie wissenschaftlich gesicherte Informationen. Anrufende, die sich um ihr eigenes Gedächtnis sorgen, und auch anrufende Angehörige betonen ihre Dankbarkeit für das niederschwellige Beratungsangebot sowie eine Zufriedenheit mit der Länge des Gesprächs. Darüber hinaus geben sie an, dass ein Telefonat für ein solches Beratungsangebot gut funktioniert. Sie zeigen sich skeptisch gegenüber anderen Optionen, wie einer Beratung über E-Mail oder über die Kommunikation auf einer Website.

Als Projektteam freuen wir uns sehr über die positive Annahme des Beratungsangebots. Um diese Ergebnisse auszubauen und noch repräsentativer zu gestalten, werden wir auch in Zukunft die Beratungsgespräche evaluieren. Wir hoffen langfristig, das Beratungsangebot auch über Göttingen hinaus zu erweitern und stetig zu verbessern.

Einen herzlichen Dank an Julia Perry sowie an das gesamte Projektteam für die Ausarbeitung dieses Artikels.