Categories
Projekte

Innovatives Online-Bürgerforum zu “GPS-Ortung von Menschen mit Demenz” stellt Ergebnisse vor

Über insgesamt fünf Termine im Mai und Juni 2022 diskutierten 17 interessierte und engagierte Bürger*innen die Chancen und Risiken rund um den Einsatz von GPS-Ortungssystemen für Menschen mit Demenz. Diese Diskussion hat auch vor dem Hintergrund steigender Erkrankungszahlen eine große Relevanz – laut der Deutschen Alzheimer Gesellschaft könnte die Zahl von Menschen mit Demenz in Deutschland bis 2050 von 1,6 Millionen Menschen (Stand: 2020) auf bis zu 2,8 Millionen anwachsen.1 

Häufige Symptome von Demenz umfassen verschiedene Formen der Gedächtnisstörung, eine Beeinträchtigung der Auffassungsgabe, der Sprache, des Denkvermögens oder auch der Orientierung.2 Bei circa 60 Prozent aller Betroffenen zeigt sich zudem eine sogenannte Hinlauftendenz, die sich in einem ziellosen umherwandern äußern kann. Dies stellt nicht nur eine Gefahr für die Betroffenen selbst dar, sondern setzt auch Angehörige und Pflegepersonal unter enormen Stress.3 Hierfür stellt sich die Frage nach dem Einsatz von GPS-Ortung für Menschen mit Demenz.

Unter Ortungssystemen für Menschen mit Demenz versteht man technische Hilfsmittel zur Positionsbestimmung der jeweiligen Person. Mithilfe dieser Technologie, die beispielsweise in Uhren, Smartphones oder Kleidungsstücken integriert werden kann, können Menschen mit Demenz zum einen eigenständig ihre Position bestimmen, zum anderen ermöglicht die Technik anderen Personen – wie beispielsweise Pflegekräften oder Angehörigen – die Bestimmung des Aufenthaltsortes des Trägers oder der Trägerin. Ob und wie eine solche Technologie eingesetzt werden sollte, ist eine Frage, die nach einer offenen, vielstimmigen Auseinandersetzung verlangt, für die das Bürgerforum den organisatorischen Rahmen bieten sollte.

Digitales Bürgerforum

Anders als bei vielen anderen Versuchen der aktiven Bürgerbeteiligung in Deutschland, fand das Bürgerforum ausschließlich online statt: „Wir hoffen, dass der erfolgreiche Abschluss unserer Veranstaltung richtungsweisend dafür sein kann, partizipative Verfahren wie dieses künftig auch in digitalen Formaten zu etablieren“, betont darum Projektleiterin Prof. Dr. Silke Schicktanz vom Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der UMG. Gemeinsam mit Prof. Dr. Mark Schweda von der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und Dr. Ruben Sakowsky vom Institut für Ethik und Geschichte der Medizin moderierte sie die Online-Veranstaltung.

Digitale Formate wie dieses erweisen sich nicht nur als Corona-sichere Alternative zum Präsenzformat, sondern erlauben darüber hinaus die Begegnung von Menschen mit verschiedensten Hintergründen. „Bei unseren Teilnehmenden handelte es sich um eine Zufallsauswahl unter Berücksichtigung von Alter, Geschlecht und Beruf“, so Dr. Ruben Sakowsky, „es kam eine bunte Gruppe mit ausgewogenem Geschlechterverhältnis aus verschiedenen Altersgruppen und mit unterschiedlichen beruflichen Hintergründen zusammen.“ Im digitalen Plenum waren Personen zwischen 18 und 67 Jahren und aus ganz Deutschland vertreten. Darunter Angestellte, Rentner*innen, Arbeitssuchende, Schüler*innen, Student*innen und Selbstständige.

Gruppenbild aus dem Bürgerforum. Von links nach rechts: Ruben Sakowsky (Moderation), Isabell Strobl (Technik), Sabrina Krohm (Technik), Silke Schicktanz und Mark Schweda (Moderation), Frank Schulze, Horst Gronke, Reinhildt Kühnst, Rosalie Filbert, Johannes Neumann, Denise Doering, Carina Landschoof, Anna Orlowa, Judith Kunze, Thorsten Börsch, Gilbert Hövel, Christina Matt, Alexandra Zoller, Anna-Lena Baasner, Lennart Darlau, Thomas Simoneit und Niolas Bouton.

Eine informierte Diskussion 

Wie schon beim Anfang diesen Jahres abgeschlossenen Bürgerforum zum Thema Feedback bei Pandemie-Apps, wurden die Teilnehmenden durch drei Expert*innen aus verschiedenen Fachbereichen ins Themengebiet eingeführt. Dr. Herlind Megges, Referentin in der Abteilung „Demografischer Wandel, Ältere Menschen, Wohlfahrtspflege“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, erläuterte am ersten Tag des Bürgerforums, was GPS-Ortungssysteme eigentlich sind, wofür sie eingesetzt werden und welche Herausforderungen sich durch ihren Einsatz stellen. Zudem erklärte sie, was man überhaupt unter Demenz versteht und warum das Thema Ortung hierfür eine Rolle spielen könnte.

Am zweiten Tag sprach Prof. Dr. Manfred Hülsken-Giesler, Berufspädagoge und Pflegewissenschaftler von der Universität Osnabrück, über die Chancen und Nutzen des Einsatzes von Ortungstechnologien für Personen mit Demenz, aber auch für Familienangehörige und professionelle Pflegekräfte. Diese Ausführungen ergänzte Prof. Dr. Arne Manzeschke, Leiter des Instituts für Pflegeforschung, Gerontologie und Ethik an der Evangelischen Hochschule Nürnberg, um die Risiken und Grenzen des Einsatzes solcher Technologien aus ethischer und anthropologischer Perspektive.

Dr. Herlind Megges, Prof. Dr. Manfred Hülsken-Giesler und Prof. Dr. Arne Manzeschke (Quellen: privat; privat; Andrea Wismath)

Nach jedem Vortrag bekamen die Teilnehmenden die Möglichkeit, mit den Expert*innen ins Gespräch zu kommen und offene Fragen zu klären. Im Anschluss daran diskutierten die Bürger*innen in Breakout-Räumen der Videokonferenz-Software Zoom untereinander über das Für und Wider von GPS-Ortung bei Demenzfällen. Um das komplexe Thema möglichst effektiv zu bearbeiten, arbeiteten die Teilnehmenden im Plenum vier Schwerpunkte heraus, die in die Handlungsempfehlung einfließen sollten: ethisch-moralische Betrachtungen; Vorsorge und alternative Ansätze; Datenschutz, Datensicherheit und Privatsphäre; und praktisch-technische Handhabung der Geräte. Anschließend wurden diese Themen in kleineren Arbeitsgruppen vertieft und später im Gesamtdokument zusammengeführt. Mithilfe der Software Miro, einem browserbasierten, interaktiven Whiteboard, visualisierten die Teilnehmenden dabei ihren aktuellen Arbeitsstand. So arbeiteten sie mittels verschiedener Online-Tools zwar räumlich getrennt, aber dennoch gemeinsam an strittigen Fragestellungen.

Übergabe an Entscheidungsträger*innen aus Gesundheitswesen und Technikentwicklung

Am Ende dieser insgesamt fünftägigen Auseinandersetzung ist eine 15-seitige Handlungsempfehlung zum Einsatz von Ortungssystemen für Menschen mit Demenz entstanden, die am 12 Juli 2022 – ebenfalls online – an Organisationen aus Gesundheitswesen und Technikentwicklung übergeben wurde. Vertreten wurden diese durch Saskia Weiß, Geschäftsführerin der Deutschen Alzheimer Gesellschaft (DAlzG), Prof. Dr. Hermann Requardt von der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech), Heidrun Mollenkopf von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen (BAGSO) und Martina Röder, Vorsitzende des Deutschen Pflegeverbandes (DPV).

Die Gäste bedankten sich für die Stellungnahme der Bürger*innen zu diesem wichtigen Thema und spiegelten, dass viele der Überlegungen und Forderungen an ihr Tagesgeschäft anknüpften. Heidrun Mollenkopf von der BAGSO begrüßte beispielsweise die vielschichtige Auseinandersetzung, die im Rahmen des Bürgerforums stattgefunden habe, „insbesondere, dass sie wirklich die Person in den Mittelpunkt stellen, ihr Recht auf Selbstbestimmung, auf soziale Teilhabe und dass sie auch sehr ausführlich die Ambivalenzen und die möglichen Konflikte diskutieren“. Einige Interessenskonflikte, beispielsweise von Forschung und Datenschutz, sowie Abweichungen von Anspruch und Realität wurden in den Statements der Entgegennehmenden ebenfalls deutlich.

Die komplette Übergabe im Video finden Sie hier.

Die Übergabe der Handlungsempfehlung erfolgte via Zoom. Von links nach rechts: Isabell Strobl, Sabrina Krohm, Ruben Sakowsky, Anna-Lena Baasner, Reinhildt Kühnst, Silke Schicktanz, Judith Kunze, Saskia Weiß, Hermann Requardt, Heidrun Mollenkopf, Horst Gronke, Rosalie Filbert, Thorsten Börsch, Martina Röder, Denise Doering und Alexandra Zoller.

Freiwilligkeit & Aufklärung 

Die Bürger*innen kamen zu dem Schluss, dass sie den Einsatz von Ortungssystemen für Menschen mit Demenz tendenziell befürworten. Allerdings fordern sie eine absolute Freiwilligkeit der Maßnahmen. So müsse vermieden werden, dass Menschen indirekt zu einer Ortung gezwungen werden, indem Heimplätze beispielsweise nur durch eine entsprechende Zustimmung vergeben werden. Zudem betonen die Teilnehmenden in ihrer Handlungsempfehlung den zentralen Stellenwert von breiter gesellschaftlicher Aufklärung, sowohl über Demenz als auch über die Möglichkeiten und Grenzen technischer Assistenzsysteme. Nur so könne gewährleistet werden, dass Menschen mit Demenz im Idealfall in einer Vorausverfügung selbst bestimmen können, ob sie einer Ortung zustimmen. Saskia Weiß, Geschäftsführerin der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, führte an, dass dies ihrer Erfahrung nach in der Praxis bisher leider selten der Fall gewesen sei. Martina Röder vom Deutschen Pflegeverband betonte, dass die Forderung der Bürger*innen hier mit den Wünschen der Pflegenden und Pflegeinstitutionen übereinstimme.

Offene Fragen zum Datenschutz

Weiterhin müsse laut der Teilnehmenden der Datenschutz im Rahmen der deutschen oder europäischen Datenschutzverordnungen gewährleistet sein und ein Missbrauch der sensiblen Ortungsdaten unbedingt vorgebeugt werden. Dieser starke Fokus auf Fragen des Datenschutzes wurde in den Stellungnahmen der Interessenvertreter*innen zum Teil mit Überraschung aufgenommen. So erklärte Saskia Weiß, dass das Thema Datenschutz in den Beratungsgesprächen der DAlzG mit Betroffenen und Angehörigen zumeist keine große Rolle spiele. Vielmehr stünde für die Angehörigen in erster Linie die Sorge um die erkrankte Person im Vordergrund.

Prof. Dr. Hermann Requardt (acatech) wies zudem darauf hin, dass die Nutzerdaten von Betroffenen dazu dienen könnten, die Diagnostik und die Therapie von Demenzerkrankungen zu verbessern. „Wir werden das Krankheitsbild nur dann wissenschaftlich beherrschen lernen, wenn wir sehr komplexe und vollständige Daten haben“, so Requardt. Insbesondere die Früherkennung sei nur dann möglich, wenn viele Datenstrukturen miteinander kombiniert werden können.

Konsens in der Ausrichtung

Großer Konsens bestand dagegen in der prinzipiellen Ausrichtung aller Anstrengungen auf das Wohlergehen der Betroffenen. Die Teilnehmerin Anna-Lena Baasner betonte in der Vorstellung der Handlungsempfehlung, dass es vor allem darum gehen müsse, Menschen mit Demenz die maximale Teilhabe an unserer Gesellschaft zu ermöglichen. Martina Röder vom Deutschen Pflegeverband unterstütze diese Position: „Wir von der Seite der Pflegeorganisation oder der Verbände stehen eindeutig dazu, dass wir Patienten- und Bewohnersicherheit im Mittelpunkt der Verbesserung der Pflegequalität sehen möchten.“

Auch in den Kriterien, die zur Bewertung von Technologie angelegt werden können, fand sich eine große Schnittmenge zwischen Teilnehmenden und Interessensvertreter*innen. Die Teilnehmerin Judith Kunze stellte sowohl die technische Praktikabilität als auch die Verlässlichkeit der verwendeten Geräte heraus. Ortungsgeräte müssten leicht bedienbar und in hohem Maße verlässlich sein. Das betreffe neben der Handhabung auch die Wartung. Um die Technik möglichst sicher zu machen, wären auch sogenannte Sturzsender erwägenswert. Diese senden ein Notsignal aus, sobald das Gerät einen Sturz registriert hat, ohne dabei medizinische Daten zu speichern. Dies deckt sich laut Saskia Weiß auch mit einem vom DAlzG entwickelten Kriterienkatalog zur Bewertung technischer Assistenzsysteme, der neben der Funktionalität auch die Möglichkeit zur individuellen Anpassung sowie die rechtliche Sicherheit aufführt.

Blick in die Zukunft

Professorin Schicktanz, die die Übergabe gemeinsam mit Dr. Ruben Sakowsky moderierte, zeigte sich zum Abschluss der Veranstaltung beeindruckt von den Diskussionsergebnissen der Teilnehmenden, denen es gelungen sei, „in kurzer Zeit eine ganze Reihe sehr wichtiger Punkte auszuarbeiten und dabei die verschiedenen moralischen Konflikte deutlich zu machen.“ Sie merkte aber auch an, dass es wichtig sei, die aufgeworfenen Fragen in Zukunft weiter zu bearbeiten. Das Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der UMG möchte dabei als vermittelnde Institution dienen, indem sie Betroffene und Angehörige, Organisationen und Verbände, aber auch Presse und Öffentlichkeit miteinander ins Gespräch bringt. Dazu wird das Team um Professorin Schicktanz gezielt auf Medien und Pressestellen zugehen, um die Handlungsempfehlung ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Auch eine wissenschaftliche Auswertung des Bürgerforums, insbesondere mit Blick auf das Online-Format, steht noch aus und soll andere Forschende dazu ermutigen, vergleichbare Verfahren der Bürgerbeteiligung zu erproben.

Hintergrund:

Das Bürgerforum ist Teil des Online-Beteiligungsprojektes „Unser Gesundheitswesen von morgen: Digitalisierung – Künstliche Intelligenz – Diversität“ des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin der UMG. Das Projekt bezieht die Öffentlichkeit ein und will Expert*innen und die interessierte Öffentlichkeit in eine gesellschaftliche Diskussion über Chancen und Risiken eines digitalisierten Gesundheitssystems bringen. Es wird als „Zukunftsdiskurs“ bis September 2022 durch das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur aus Mitteln des Niedersächsischen Vorab gefördert. Die Leitung des Projekts hat Prof. Dr. Silke Schicktanz vom Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der UMG. Das Online-Bürgerforum fand in Kooperation mit Prof. Dr. Mark Schweda von der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg statt.

Quellen:
[1] Deutsche Alzheimer Gesellschaft e. V. Selbsthilfe Demenz: Informationsblatt 1 (2020) >www.deutsche-alzheimer.de/fileadmin/Alz/pdf/factsheets/infoblatt1_haeufigkeit_demenzerkrankungen_dalzg.pdf<
[2] Bundesgesundheitsministerium, Demenz-Ratgeber. >https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/pflege/online-ratgeber-demenz/krankheitsbild-und-verlauf.html<
[3] Alzheimer’s Association: Wandering. >https://www.alz.org/help-support/caregiving/stages-behaviors/wandering<

Categories
Projekte

Gut beraten… im Frühstadium einer Alzheimer-Erkrankung oder bei einer Demenz-Vorhersage

„Was man nicht im Kopf hat, hat man in den Beinen“ sagt man sich selbst mit einem kleinen Lächeln, wenn man erneut das Portemonnaie, Schlüssel oder Handy vergessen hat und sich wieder auf den Rückweg macht. Doch was ist, wenn sich diese Vorfälle häufen und nicht nur Kleinigkeiten vergessen werden, sondern auch alltägliche Routinen plötzlich schwerer fallen? Was ist, wenn man solche Gedächtnisstörungen bei Angehörigen beobachtet?

Shutterstock / Naumova Marina

Viele Menschen machen sich Sorgen um ihr Gedächtnis und befürchten, dass sie in der Zukunft eine Demenz entwickeln könnten. Manchmal sind es auch die Angehörigen, die erste Gedächtnisstörungen bei ihren Partnern, Eltern oder anderen Verwandten bemerken. Sie vermuten, dass eine beginnende Demenz vorliegt.

Fachärztliche Informationen zum Thema sind manchmal aber schwer zu bekommen. Leicht zugängliche Beratungsangebote sind bisher selten. Deshalb möchten wir mit dem Informations- und Beratungstelefon ein neues Angebot für Personen mit beginnenden Gedächtnisstörungen und besorgte Angehörige schaffen. Diese können im Telefonat Fragen stellen und sich über mögliche Testverfahren oder Anlaufstellen informieren.

Das Informations- und Beratungstelefon ist Teil des Modellprojekts „Gut beraten: Neue multimodale und standardisierte Beratungsmodelle für Menschen im Frühstadium einer Alzheimer-Erkrankung bzw. im Rahmen einer Demenzvorhersage“. Dieses Projekt ist eine Kooperation des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin (J. Perry und Prof. Dr. S. Schicktanz) der Universitätsmedizin Göttingen (UMG), der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie (Dr. K. Radenbach und Prof. Dr. J. Wiltfang) der UMG, und des IEGUS – Instituts für europäische Gesundheits- und Sozialwirtschaft (B. Herten). Gefördert wird das Projekt durch die Deutsche Alzheimergesellschaft e.V. Selbsthilfe Demenz. Unsere Projektwebsite wird über das Informations- und Beratungstelefon hinaus, allgemeinzugängliche Informationen bieten und Antworten auf mögliche erste Fragen geben: https://beratung-demenz.de.

Demenz und Diagnostik zur Feststellung von Gedächtnisstörungen

Demenz ist eine fortschreitende Erkrankung, bei der das Gedächtnis und andere geistige Fähigkeiten wie z. B. Lernen, Sprache, Orientierung, Entscheidungskompetenz oder Planungs- und Urteilsvermögen beeinträchtigt sein können. Im Verlauf kann es zu deutlichen Einschränkungen der selbstständigen Lebensführung kommen. Betroffene sind dann auf Unterstützung und Pflege angewiesen.

Eigene Illustration aufbauend auf Informationen aus Schneider et al. 2007 und https://www.alz.org/alzheimers-dementia/what-is-dementia

Trotz intensiver Forschung gibt es bislang noch keine Aussicht auf Heilung. Die Behandlung einer Alzheimer-Demenz konzentriert sich daher auf eine medikamentöse Therapie zur Verlangsamung des Krankheitsverlaufs. Begleitend wird oft versucht, Verhalten und Emotionen der Betroffenen positiv zu beeinflussen. Eine Unterstützung durch die Familie, sowie, wenn nötig, professionelle Pflege, sind ebenfalls wichtig.

Man geht derzeit davon aus, dass bisherige Medikamente in einem zu weit fortgeschrittenen Erkrankungsstadium ansetzen. Aktuell fokussiert die Forschung daher auf die Verbesserung der Vorhersage und Früherkennung von Demenz. So hofft man, Therapien in Zukunft früher beginnen zu können oder neue Therapieansätze zu finden, die viel früher in die molekularen Mechanismen der Erkrankungen eingreifen als bislang. Durch z. B. Untersuchungen des Nervenwassers und nuklearmedizinische Untersuchungen sind erste Anzeichen der Alzheimer-Erkrankung mittlerweile Jahre bis Jahrzehnte vor Beginn einer Demenz nachweisbar. Erste Gedächtnisstörungen lassen sich schon in Vorstadien einer Demenz mit neuropsychologischen Verfahren nachweisen.

Diese frühe Erkennung kann sinnvoll sein, um beispielsweise beim Übergang in eine Demenz rechtzeitig mit einer medikamentösen Therapie zu beginnen. Es können auch weitere Faktoren, die den Verlauf der Erkrankung beeinflussen können, positiv verändert werden. Dazu gehören z. B. gesunde Ernährung, geistige und körperliche Aktivität, die Behandlung von Herzkreislauferkrankungen und eine gute Hörgeräteversorgung bei Hörminderung.

Frühe Diagnosen sollten aber gut überlegt sein: Ein auffälliger Befund kann das Leben einer Person von Grund auf ändern. Das betrifft Bereiche wie die weitere Lebensplanung und Versorgungsentscheidungen – gerade bei Personen, die noch berufstätig sind – aber auch die Beziehungen zu Angehörigen und Freunden, die eigene Lebensqualität und mögliche psychische Belastungen, die durch das bloße Wissen über einen auffälligen Befund entstehen können.

Das Angebot des Informations- und Beratungstelefons

Ein professionelles Beratungsangebot kann Betroffenen und Angehörigen dabei helfen, eine selbstbestimmte Entscheidung zu treffen, ob und in welchem Umfang diagnostische Untersuchungen sinnvoll und hilfreich sind. Die Beratung kann weiter dabei helfen passende Anlaufstellen zu finden. Daher bieten wir im Projekt seit dem 25.01.2021 zweimal pro Woche ein Informations- und Beratungstelefon an, das Anrufende genau darin unterstützen soll.

Bild: Ruben Sakowsky

Eine Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie mit langjähriger Erfahrung in der Behandlung von Menschen mit Gedächtnisstörungen, bietet am Telefon, das an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der UMG angesiedelt ist, erste Hilfestellungen für die Anrufenden. In den Gesprächen wird aber weder eine Diagnose gestellt, noch erfolgt eine Fernbehandlung. Das Ziel ist es, betroffene Personen in ihrem Anliegen individuell und bedürfnisgerecht zu unterstützen und Informationen sowie Zugang zu geeigneten Anlaufstellen zur Verfügung zu stellen. Die Beratung ist kostenfrei und richtet sich an Menschen aus Göttingen und dem Göttinger Umland.

Befragung individueller Bedürfnisse und Erfahrung zur Verbesserung des Beratungsangebots

Ziel des Projekts ist es, das Beratungsangebot für Betroffene einer demenziellen Erkrankung im Frühstadium oder im Rahmen einer Demenzvorhersage sowie für deren Angehörige nachhaltig zu verbessern. Daher werden die Beratungsgespräche auf freiwilliger Basis auch wissenschaftlich evaluiert: Wenn die anrufende Person damit einverstanden ist, wird nach der Beratung Kontakt zu einer Mitarbeiterin des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin der UMG hergestellt. Diese befragt die Person zu folgenden Punkten:

  • Wie wurde das telefonische Beratungsgespräch empfunden?
  • Was wurde aus dem Gespräch mitgenommen oder was hat eventuell gefehlt?
  • Wie wurde generell die Qualität der Beratung empfunden?
  • Welche Verbesserungsvorschläge gibt es für das Angebot?
Bild: Ruben Sakowsky

Die Zeit für das etwa 30-minütige Gespräch kann selbst gewählt werden. Die Gespräche finden telefonisch statt. Selbstverständlich werden alle erhobenen, persönlichen Daten der Anrufenden im gesamten Projekt streng vertraulich und den Richtlinien des Datenschutzgesetzes entsprechend behandelt. Die Inhalte der Gespräche werden nicht an Dritte weitergegeben.

Das Informations- und Beratungstelefon für Personen mit beginnenden Gedächtnisstörungen und besorgte Angehörige steht jeweils montags von 10.00-12.00 Uhr und donnerstags von 14.00-16.00 Uhr unter der Telefonnummer 0551 – 39 62122 als Anlaufstelle zur Verfügung. Wenn Sie sich Sorgen um Ihr eigenes Gedächtnis machen oder um das einer angehörigen Person, rufen Sie an – wir unterstützen Sie gerne.

Erste Ergebnisse

Eine erste Zwischenbilanz zeigt, dass Anrufende, die sich um ihr eigenes Gedächtnis sorgen, vorrangig vor einer Verschlimmerung der Symptome und eines möglichen Autonomieverlusts Angst haben. Sie erhoffen sich durch eine eventuelle Diagnostik Sicherheit sowie neue Möglichkeiten, um den Verlauf zu verlangsamen. Anrufende empfinden die telefonische Beratung als erleichternd, aber werden zum Teil auch in ihren Ängsten bestätigt. Besorgte Angehörige geben insbesondere einen hohen Informations- und Beratungsbedarf an. Angehörige machen sich vorwiegend Sorgen um den Zugang zu Gedächtnisambulanzen bzw. um fehlende Kooperation seitens ihrer betroffenen Angehörigen. Sie sehen besonders in COVID-19-Zeiten einen Mangel an Trainingsangeboten für Angehörige sowie wissenschaftlich gesicherte Informationen. Anrufende, die sich um ihr eigenes Gedächtnis sorgen, und auch anrufende Angehörige betonen ihre Dankbarkeit für das niederschwellige Beratungsangebot sowie eine Zufriedenheit mit der Länge des Gesprächs. Darüber hinaus geben sie an, dass ein Telefonat für ein solches Beratungsangebot gut funktioniert. Sie zeigen sich skeptisch gegenüber anderen Optionen, wie einer Beratung über E-Mail oder über die Kommunikation auf einer Website.

Als Projektteam freuen wir uns sehr über die positive Annahme des Beratungsangebots. Um diese Ergebnisse auszubauen und noch repräsentativer zu gestalten, werden wir auch in Zukunft die Beratungsgespräche evaluieren. Wir hoffen langfristig, das Beratungsangebot auch über Göttingen hinaus zu erweitern und stetig zu verbessern.

Einen herzlichen Dank an Julia Perry sowie an das gesamte Projektteam für die Ausarbeitung dieses Artikels.