Repräsentationen von Syphilis vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart
Die Plakatkampagne „Hautnah“, die zahlreiche Bushaltestellen, Plakatwände und Litfaßsäulen schmückte, war in den vergangenen Monaten kaum übersehbar. Sie machte das Thema Geschlechtskrankheiten im Alltag auf einprägsame Weise visuell präsent. Dass die Bundeszentrale für sexuelle gesundheitliche Aufklärung (BzgA) mit ihrer Initiative „LIEBESLEBEN“ dabei auf die Gefahr einer Ansteckung hinweist und aktiv zur Nutzung von Kondomen auffordert, überrascht aus heutiger Perspektive kaum, denn dies gilt als eine der erfolgreichsten Maßnahmen zur Prävention von Geschlechtskrankheiten wie Syphilis.
Solche Sichtbarmachungen von Geschlechtskrankheiten sind kein Phänomen des 21. Jahrhunderts, sondern begannen sich bereits im frühen 20. Jahrhundert zu entwickeln – jedoch zumeist weniger freizügig und mit anderen sozialen und moralischen Implikationen, als es heute der Fall ist. Trotz dessen war dies zeitgenössisch provokant, denn selbst das offene Thematisieren von Sexualität und den mit Scham behafteten Geschlechtskrankheiten war um 1900 neu.
Hintergrund: Die Verbreitung der Geschlechtskrankheit Syphilis
Syphilis galt zu dieser Zeit als die am weitesten verbreitete Geschlechtskrankheit. Da sich die Krankheit teilweise an sichtbaren Körperstellen zeigt, war ihr Anblick stärker Teil des Alltags als heute. Jedoch ist sie nicht verschwunden: Zwar ist sie seit der Entwicklung des Penicillins als Gegenmittel in den 1940er Jahren gut behandelbar. Für viele überraschend, stieg die Zahl an Ansteckungen mit Syphilis jedoch seit 2010 wieder auf etwa 8.000 jährlich an.
Wie bis heute nicht untypisch bei Geschlechtskrankheiten, wurden auch um 1900 bestimmte Personengruppen mit Syphilis assoziiert. Lange Zeit handelte es sich dabei vor allem um weibliche Prostituierte und die Krankheit galt als schambehaftet. Um das verbreitete Wissen über Syphilis zu beeinflussen, wurden sogenannte „Aufklärungskampagnen“ in den 1910er bis frühen 1930er Jahren durchgeführt, die es zum Ziel hatten, wissenschaftliches Wissen frei von moralischen Implikationen zu verbreiten. Dabei kamen insbesondere Visualisierungen, wie Poster, Lichtbildervorträge oder Ausstellungen zum Einsatz – die annehmen lassen, dass sie die Wissensaushandlung beeinflussten.
Das Promotionsprojekt „Krankheit als Wissensding“
Wie unterschieden sich diese Kampagnen von den heutigen? Wie wurde von den 1880er bis in die 1930er – und damit der Zeit, zu der Syphilis als Gefahr wahrgenommen wurde – auf visueller Ebene über die Krankheit informiert? Welchen Einfluss hatten die Visualisierungen auf die Aushandlung und Verbreitung von Wissen? Wer war daran beteiligt?
Um diesen und weiteren Fragen auf den Grund zu gehen, beschäftigt sich das geschichtswissenschaftliche Promotionsprojekt „Krankheit als Wissensding“ mit unterschiedlichen Visualisierungen und auch Materialisierungen von Syphilis. Seit Oktober 2020 werden diese „Wissensdinge“ sowohl in öffentlichen als auch in medizinischen Forschungskontexten analysiert.
Seit August 2021 profitiert das Projekt dabei insbesondere von der Zusammenarbeit mit dem am Institut angesiedelten, universitätsintern geförderten Projekt „Infection and Injustice. Narrative Responses to Pandemics”. Das Projekt ergänzte das Promotionsthema um die Frage, wie in Visualisierungen wie Postern oder Lichtbildern Narrative über Syphilis umgesetzt sein können.
Ziel des Projekts
Objekte und damit auch ihr Einfluss auf die Konstruktion von Wissen über Syphilis wurden in der bisherigen Forschung häufig nicht systematisch mitbetrachtet. Sie können jedoch schriftliche Quellen um zusätzliche Ebenen ergänzen und einen Beitrag dazu leisten nachzuvollziehen, wie unterschiedliche Akteursgruppen auch über andere Medien Wissen aushandelten und zu verbreiten versuchten. Dabei kamen sowohl in den Wissenschaften, z.B. der Dermatologie, als auch in öffentlichen Räumen (wie bei Ausstellungen oder Vorträgen) unterschiedlichste mediale Trends zum Einsatz. Daher nimmt das Projekt unterschiedliche Sichtbarmachungen von Krankheit in Objektform in den Blick. Dazu gehören unter anderem Wachsmoulagen bzw. Nachbildungen von Körperteilen aus Wachs, menschliche und tierische Gebeine, aber auch diverse Abbildungsformen wie Statistiken oder Fotografien. Über die Analyse dieser „Wissensdinge“ soll nachvollzogen werden, wie Krankheitsverständnisse auf visueller und materieller Ebene geformt werden können und welche Kommunikationsstrategien, Konflikte, In- und Exklusionsprozesse hier zum Tragen kommen.
Vielen Dank an Victoria Morick für die Ausarbeitung dieses Beitrags!
Wir freuen uns sehr, den folgenden Gastbeitrag zu den ethischen Implikationen von intelligenten Assistenztechnologien in der Demenzpflege von unserer Kollegin Frau Dr. Hanan AboJabel in englischer Sprache präsentieren zu dürfen.
Intelligent assistive technology (IAT) is considered an innovative way to reduce the challenges associated with dementia care. Such technology can empower people with dementia (allowing them to live independently, autonomously and with privacy for a longer period of time) as well as their family caregivers (reducing the feeling of burden and worries). Despite these benefits, the willingness of people with dementia and their family caregivers to adopt IAT is still limited. Ethical (including invading the privacy of people with dementia and reducing human connection) and social (economic considerations, stigma, and ageism) issues play an important role in this context.
Indeed, the perception of these issues may be related to cultural orientation. Take, for instance, a study I conducted with my colleague Johannes Welsch as part of the EIDEC-project, in which we compared the attitudes of Israeli and German experts regarding IAT in dementia care. We found that whereas the privacy of people with dementia was most highly prioritized by German experts, Israeli experts prioritized the safety of people with dementia over their privacy. Also, in contrast to German experts, Israeli experts raised a stigma towards people with dementia and saw the limited capacity of people with dementia to interact with technology as a major obstacle to the development and adoption of assistive systems. The differences between the perceptions of German and Israeli experts were explained by the higher emphasis that is put on values of individuality in Germany in comparison with Israel.
Finally, I believe that ethical and social issues as well as cross-cultural values and preferences should guide policymakers and technology developers in designing, developing, and adopting IAT.
Vielen Dank an Hanan AboJabel für die Ausarbeitung dieses Beitrags!
Das Projekt „Unser Gesundheitswesen von morgen: Digitalisierung – Künstliche Intelligenz – Diversität“, welches hier mit dem Kurztitel „Zukunftsdiskurse“ bezeichnet wird, feierte im September 2022 nach 18 Monaten Laufzeit seinen erfolgreichen Abschluss. Im Rahmen des Projektes haben wir fünf Podiumsdiskussionen und zwei Bürgerforen durchgeführt. Dabei haben wir neue Formate der Online-Kommunikation erprobt und weiterentwickelt. Jede Veranstaltung hat sich mit wichtigen Fragen zum Gesundheitswesen der Zukunft beschäftigt und zu ihrer Beantwortung Stimmen aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft zusammengeführt. Die Themen reichten von technologischen Entwicklungen, wie dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Diagnostik, über Pandemie-Apps bis hin zu GPS-Ortungssystemen für Menschen mit Demenz. Alle Zukunftsdiskurse verband dabei die Leitfrage: „Wie sollte das Gesundheitswesen der Zukunft aussehen?“
Aus den zurückliegenden Projekt-Erfahrungen haben wir vier Lehren gezogen. Diese Zusammenfassung soll allen Beteiligten und zukünftig Forschenden nützliche Anhaltspunkte dafür bieten, worauf bei der Durchführung vergleichbarer Formate zu achten ist. Ein ausführlicher Bericht zum Projekt kann auf der Projektwebseite heruntergeladen werden – eine Aufzeichnung der Abschlussveranstaltung ist dort ebenfalls zu finden.
Lehre 1: Die Chancen im Digitalen
In digitalen Formaten liegt eine große Chance – sowohl für Forschende als auch für eine interessierte Öffentlichkeit. Das wurde besonders während der Online-Beteiligungsformate deutlich, die wir im Rahmen der Zukunftsdiskurse erprobt haben. So wurden die Online-Bürgerforen auch für solche Personen zugänglich, für die sich eine „analoge Teilnahme“ andernfalls nicht mit beruflichen oder familiären Verpflichtungen oder anderen Lebensumständen vereinbaren ließ. Die Möglichkeit der Teilnahme ist dabei nicht nur ein Gewinn für die Personen selbst, sondern bereichert auch den Diskurs. Es erlaubt Forschenden zudem, einen möglichst heterogenen, dem Thema angemessenen Kreis an Teilnehmenden zu adressieren und für deliberative Verfahren zu gewinnen.
Das digitale Format hebt geographische Beschränkungen auf. Für das Bürgerforum zu GPS-Ortung von Menschen mit Demenz war es möglich, aus Bewerber*innen aus ganz Deutschland auszuwählen und nach demographischen Kriterien auszulosen. Diese breite Zusammensetzung der Teilnehmenden war sowohl inhaltlich, als auch methodisch zentral. Die Bewerbung unseres Bürgerforums erfolgte sowohl über die üblichen Verbreitungswege (E-Mail-Verteiler, Flyer), als auch durch Werbeschaltungen auf sozialen Plattformen (Facebook und Instagram). Die hohen Aufrufzahlen dieser Einblendungen zeigen uns, dass diese entscheidend zur besseren Sichtbarkeit unserer Veranstaltung beigetragen haben.
Lehre 2: Das zivilgesellschaftliche Engagement ist da
Sowohl die hohen Bewerbungszahlen für das Online-Bürgerforum zu GPS-Ortung von Menschen mit Demenz, als auch die rege Beteiligung des Publikums bei den Podien hat uns gezeigt, dass es nicht am zivilgesellschaftlichen Willen mangelt, sich in gesellschaftlich relevante und ethisch kontroverse Debatten einzubringen. Jede unserer insgesamt fünf Podien verwandte zum Abschluss der rund 90-minütigen Veranstaltungen eine halbe Stunde auf Fragen aus dem Publikum. Dabei überstiegen die zahlreichen Nachfragen regelmäßig den zeitlichen Rahmen.
Im Falle der Bürgerforen zeigte sich dieser Mitbestimmungswille noch wesentlich deutlicher. So verfassten die Teilnehmenden zum Abschluss der Bürgerforen ausführliche Handlungsempfehlungen, um diese Vertreter*innen aus dem Gesundheitswesen, der Forschung und der Technikentwicklung vorzustellen. Hier setzte sich das große Engagement aus den Diskussionen untereinander in der Vorstellung der Ergebnisse fort und wurde von den Entgegennehmenden vielfältig anerkannt. Selbst nach Abschluss der beiden Bürgerforen erreichten uns noch Nachfragen interessierter Bürger*innen zu zukünftigen Bürgerforen.
Bürgerbeteiligungsformate fallen also auf einen fruchtbaren Boden. Das zivilgesellschaftliche Engagement ist da, ebenso das Interesse an einer ausgewogenen, informierten Diskussion. Bürgerbeteiligungsformate müssen dazu allerdings initialisiert und finanziert, aber auch niedrigschwellig konzipiert und vor allem reichweitenstark beworben werden. Nur so können sie in der Wahrnehmung potenzieller Bewerber*innen überhaupt auftauchen.
Lehre 3: Komplexe Zusammenhänge erkennen
Die Digitalisierung des Gesundheitswesens kann nur über einem ganzheitlichen Blick verstanden und bewertet werden. Insbesondere in den Online-Podien zeigte sich, wie sehr die verschiedenen Einzelthemen miteinander verflochten sind. Im Anschluss an die erste Podiumsrunde zu Datenschutz in der digitalen Medizin, kam auch in den anderen Podien wiederholt die Frage auf, wem medizinische Daten eigentlich gehören und unter welchen gesetzlichen Rahmenbedingungen sie erhoben werden dürfen. Besonders dringlich stellt sich diese Frage im Falle von datenbasierten KI-Systemen. Diese wurden im Podium „Krank laut KI – Wer übernimmt in Zukunft die Verantwortung für Diagnosen?“ am Beispiel eines Bilderkennungs- sowie eines Tonerkennungsalgorithmus diskutiert. Im Podium „Programmierte (Un-)Gleichbehandlung? Gefahren der Diskriminierung durch KI in der Medizin“ zeigten sich die Gefahren von homogenen Datensätzen, wenn diese bei heterogenen Patient*innen-Gruppen angewendet werden, aber auch die Gefahren von Datensätzen, die Vorurteile enthalten und diese reproduzieren.
An den genannten Beispielen wird deutlich, dass es nicht nur entscheidend ist, dass solche Fragen gestellt werden, sondern auch an wen sie gerichtet werden. Gerade die interdisziplinäre Zusammensetzung unserer Podien hat durch die jeweiligen facheigenen Perspektiven wiederholt die Verflochtenheit der einzelnen Themen verdeutlicht. Solch ein multiperspektivischer, ganzheitlicher Ansatz könnte auch in der Entwicklung neuer Technologien wertvolle Erkenntnisse liefern, indem verschiedene Interessensgruppen bereits frühzeitig einbezogen werden.
Lehre 4: Verschiedene Interessensgruppen einbeziehen
Es ist wichtig, auf mehreren Ebenen ein Bewusstsein für die Zusammenhänge der verschiedenen Themen des Projektes zu schaffen. Dabei geht es darum, ein öffentliches Bewusstsein für die technologischen Möglichkeiten und ihre gegenwärtigen Anwendungen im Gesundheitswesen zu wecken – beispielsweise im Falle der Erhebung und Spende von personalisierten Daten. Es geht aber auch um eine Schärfung des Bewusstseins für die konkreten Prozesse in den Anwendungsfeldern von Technologien, zum Beispiel in einem Krankenhaus, aufseiten der Technikentwicklung.
Wo und warum soll die Technologie eingesetzt werden? Was denken die von der Technik direkt oder indirekt Betroffenen dazu (Personal, Patient*innen, Angehörige)? Vereinfacht der technologische Einsatz bestehende Arbeitsprozesse oder verkompliziert er sie? Hier ist die Technikentwicklung in der Pflicht, sich über den Dialog mit den verschiedenen Interessensgruppen zu legitimieren, indem sie die Bedarfe in den jeweiligen Anwendungsfeldern erfragt und gemeinsam Lösungen erarbeitet. Es stellt sich also nicht bloß die Frage nach dem technisch Machbaren, sondern immer auch nach dem gesellschaftlich Sinnvollen und ethisch Vertretbaren.
Am Anfang steht der Dialog
Die Lehren, die wir nach 18 Monaten Projektlaufzeit ziehen, betreffen also zum einen Fragen der Umsetzung und Methodik, zum anderen Fragen der Diskursführung und inhaltlichen Auseinandersetzung mit Aspekten der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Allen Lehren zugrunde liegt die Überzeugung, dass im Zentrum jeder Bemühung der Dialog stehen muss. Das betrifft sowohl den innerwissenschaftlichen Diskurs zwischen den verschiedenen Disziplinen, als auch den Austausch von Akteur*innen aus der Wissenschaft mit zivilgesellschaftlichen Akteur*innen – so wie es verschiedene Formate der Bürgerbeteiligung möglich machen.
Demenz – eine gesellschaftliche und persönliche Herausforderung
Demenz ist eine globale Herausforderung. Mehr als 55 Millionen Menschen sind weltweit betroffen. 1,3 Billionen Dollar kostet ihre Versorgung — eine Zahl mit 12 Nullen! Das ist beinahe das Dreifache des deutschen Bundeshaushalts. Und in den kommenden Jahren werden diese Zahlen weiter steigen: Die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass bis 2050 weltweit über 130 Millionen Menschen von Demenz betroffen sein werden. Die Kosten werden sich bis 2030 verdoppeln.
Die großen Zahlen und die noch größeren Herausforderungen auf gesellschaftlicher Ebene dürfen nicht darüber hinwegtäuschen: Demenz ist vor allem und zuerst eine persönliche Herausforderung. Demenz ist für die Betroffenen mit einem fortschreitenden und unumkehrbaren Verlust ihrer geistigen Fähigkeiten verbunden: Die Vergesslichkeit nimmt zu, man verläuft sich immer öfters, und auch alltägliche Handlungen wie Kochen und Körperpflege fallen zunehmend schwerer. Auch für die Angehörigen ist die Demenz eines nahestehenden Menschen herausfordernd: Durch die Versorgung der Betroffenen im eigenen Haus, in der eigenen Wohnung leidet das eigene Sozial- und Berufsleben, finanzielle Belastungen nehmen zu und vor allem der psychische Stress setzt viele Angehörige unter Druck. Der Umzug in eine Pflegeeinrichtungen wird trotzdem von vielen Betroffenen und Angehörigen solange wie möglich hinausgezögert.
Dabei können schon heute viele Menschen mit Demenz nicht mehr von ihren jüngeren Verwandten versorgt werden: Junge Menschen müssen häufig für Ausbildung, Studium, Beruf ihre Heimat verlassen und ziehen in weit entfernte Regionen. Gleichzeitig arbeiten — gerade in Deutschland! — zu wenige Menschen als Pflegefachkraft: zu unattraktiv, zu schlecht bezahlt, zu belastend ist der Beruf.
Intelligente Assistenztechnologien – die große Hoffnung
Wie kann vor diesem Hintergrund sichergestellt werden, dass Menschen mit Demenz auch in Zukunft gut versorgt werden? Politik und Gesellschaft setzen große Hoffnungen in sogenannte intelligente Assistenztechnologien. Schon heute gibt es eine Vielzahl solcher technischen Geräte: Mit GPS-Tracking-Systeme soll man Menschen mit Demenz, die sich verlaufen haben, leichter und schneller wiederfinden; moderne Navigationssysteme können den Betroffenen helfen, sich selbst wieder zu orientieren; das sogenannte Ambient Assisted Living unterstützt durch verbaute Sensoren die Alltagsbewältigung im eigenen Wohnumfeld; Roboter können Menschen mit Demenz in ihren täglichen Aufgaben unterstützen, an die Einnahme von Medikamenten erinnern und die pflegenden Angehörigen oder Fachkräfte bei körperlich anstrengenden Tätigkeiten entlasten. An vielen weiteren Technologien mit unterschiedlichen Einsatzgebieten wird derzeit geforscht.
Sie alle verfolgen mehrere Ziele: Die Lebensqualität von Menschen mit Demenz soll verbessert werden; die Angehörigen und beruflich Pflegenden sollen unterstützt werden; nicht zuletzt soll die Pflege effizienter gestaltet und damit das öffentliche Versorgungssystem finanziell entlastet werden. Die Hoffnungen sind so groß wie die Herausforderungen. Doch bislang gibt es kaum wissenschaftliche Erkenntnisse über die Rahmenbedingungen und Folgen der Nutzung dieser intelligenten Assistenztechnologien. Können sie die Hoffnungen erfüllen und die gesteckten Ziele erreichen? Welche Chancen birgt ihr Einsatz und welche Risiken gehen mit ihm einher?
EIDEC – Ethische und soziale Aspekte Co-intelligenter Monitoring- und Asssistenzsysteme in der Demenzpflege
Um auf diese Fragen Antworten zu finden, fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung das Projekt EIDEC (Ethische und soziale Aspekte Co-intelligenter Monitoring- und Assistenzsysteme in der Demenzpflege). Von 2019 bis Ende 2022 forschen wir interdisziplinär zu den Rahmenbedingungen, Chancen und Risiken intelligenter Assistenztechnologien in der Demenzpflege. Interdisziplinär bedeutet in diesem Fall, dass unser Team aus Ethiker*innen und Sozialwissenschafter*innen, aus Informatiker*innen und Ingenieurwissenschaftler*innen besteht.
In etwa 60 Interviews haben wir Menschen mit Demenz, ihre Angehörigen, beruflich Pflegende und Expert*innen aus Deutschland dazu befragt, welche Auswirkungen ihrer Meinung nach der Einsatz intelligenter Technologien in der Versorgung von Menschen mit Demenz hat. Allein mit den interviewten Expert*innen kamen 20 Interviews zusammen, die wir anschließend ausgewertet haben. Die Teilnehmer*innen kamen dabei aus den Bereichen der Technikforschung und -entwicklung, der Freien Wohlfahrtspflege, den Pflegeversicherungen, der Gesundheits- und Pflegepolitik, sowie der Interessenvertretung beruflich Pflegender. So konnten wir einen tiefen Einblick in die aktuellen Bewertungen deutschsprachiger Schlüsselpersonen von intelligenten Assistenztechnologien für die Demenzpflege gewinnen.
Digitale Pflege im Funkloch? – Rahmenbedingungen für intelligente Assistenztechnologien
Viele der Expert*innen haben betont, dass die Digitalisierung bereits den Alltag der allermeisten Menschen bestimmt: Wir nutzen Smartphones, kaufen online ein, treffen uns mit Freunden in Videochats und arbeiten digital von zuhause aus. Vieles davon gilt immer mehr auch für ältere Menschen. Die Bereitschaft, digitale Technologien und Systeme zu nutzen steigt. Gleichzeitig findet vieles, was die Digitalisierung ermöglicht, noch im Funkloch statt — oder eben nicht. Das kann man doppelt verstehen: Die Expert*innen betonten erstens, dass gerade in ländlichen Regionen und in Pflegeeinrichtungen die Anbindung an das Internet bislang verbesserungsbedürftig ist. Schnelles Internet ist für viele intelligente Technologien eine Grundvoraussetzung, in den meisten ländlichen Regionen aber einfach nicht vorhanden. In vielen Pflegeeinrichtungen haben die Bewohner*innen nicht einmal Zugriff auf ein WLAN.
Das Funkloch ist aber auch in einem übertragenen Sinn zu verstehen: Obwohl die Bereitschaft, digitale Technologien zu nutzen steigt, sind die notwendigen Kompetenzen dafür immer noch ungleich verteilt. Die Expert*innen stellten zweitens fest, dass gerade ältere Menschen bei der Nutzung von Smartphones und noch komplexeren Systemen Unterstützung brauchen. Zumindest am Anfang. Nicht jedem stehen dafür jüngere Angehörige zur Verfügung. Aber auch Informations- und Bildungsangebote zu digitalen Technologien sind bislang noch eine Ausnahme. Der Mangel sowohl an schnellem und stabilem Internet als auch an Informations- und Bildungsangeboten führt dazu, dass viele, gerade ältere Menschen heute noch von den Möglichkeiten der Digitalisierung ausgeschlossen sind. — Gerade wenn es um den Bereich der pflegerischen Versorgung geht.
Selbstbestimmt, überwacht, vereinsamt? – Chancen und Risiken für Menschen mit Demenz
In den Interviews haben wir die Expert*innen aber nicht nur nach den Rahmenbedingungen gefragt. Wir wollten auch wissen, wie sie die Chancen und Risiken intelligenter Assistenzsysteme für die Betroffenen einschätzen. Die Expert*innen hoben eine Chance besonders hervor: Intelligente Assistenzsystemen könnten dazu beitragen, dass Menschen mit Demenz länger in ihrem eigenen Wohnumfeld leben können. Das entspricht auch dem Wunsch der meisten älteren Menschen. Sensorsysteme, die Bewegungen registrieren, den Schlafrhythmus auswerten und Stürze erkennen können, können die Sicherheit der Betroffenen erhöhen. Digitale Erinnerungssysteme und unterstützende Roboter können die Betroffenen unabhängiger von Angehörigen und beruflich Pflegenden machen. Durch Videokonferenzsysteme können entfernt lebende Angehörige den Kontakt halten, und auch der Austausch mit Pflegefachkräften und Ärzt*innen wird erleichtert.
Die Expert*innen wiesen aber auch auf Risiken hin: Um die genannten Chancen zu verwirklichen, müssen intelligente Assistenztechnologien viele Daten sammeln und auswerten; das könnte von vielen Menschen als Überwachung wahrgenommen und abgelehnt werden. Zugleich stellen sich Fragen nach der Sicherheit der Daten und Zugriffsberechtigungen. Außerdem befürchteten einige Expert*innen, dass die technisch gewährleistete Unabhängigkeit zu einer Vereinsamung der Betroffenen führen könnte: Weil diese eh sicher im eigenen Wohnumfeld sind, könnten Angehörige und beruflich Pflegende seltener vorbeikommen und der Kontakt nur noch digital, über Bildschirme stattfinden.
Wirklich entlastet? – Chancen und Risiken für Angehörige und beruflich Pflegende
Neben den Betroffenen selbst, sind auch die Angehörigen und beruflich Pflegenden wichtige Personen in der Versorgung von Menschen mit Demenz. Deshalb haben wir die Expert*innen auch nach den Chancen und Risiken intelligenter Assistenzsysteme für diese Gruppen gefragt. Dabei stellte sich heraus, dass die Expert*innen die größte Chance für pflegende Angehörige und Pflegefachkräfte in der Entlastung sehen: Der Einsatz intelligenter Assistenztechnologien kann sowohl zum körperlichen als auch psychischen Wohlbefinden dieser Gruppen beitragen. Roboter können bei der Umlagerung von bettlägerigen Menschen mit Demenz helfen oder bei der anstrengenden Körperpflege unterstützen; Sicherheitssysteme können dazu beitragen, dass Angehörige auch ihr eigenes Sozial- und Berufsleben pflegen und nicht 24 Stunden am Tag zuhause bleiben müssen; Videokonferenzsysteme ermöglichen es entfernt lebenden Verwandten, auch auf Distanz Kontakt zu den Betroffenen zu halten, und Pflegefachkräften auch im eng getakteten Alltag kurzfristig für ein Gespräch verfügbar zu sein.
Andererseits bergen die intelligenten Assistenztechnologien auch Risiken für Angehörige und beruflich Pflegende. Die Überwachung der Betroffenen könnte sich so befürchteten einige Expert*innen, zu einer Sucht entwickeln. Angehörige und Pflegefachkräfte würden dann jederzeit wissen wollen, was der Mensch mit Demenz macht und wo er sich aufhält. Das würde dann neuen Stress auslösen und auch die Beziehung zwischen den Beteiligten belasten. Zusätzlich könnten durch die intelligente Assistenztechnologien selbst neue Belastungen entstehen: Anschaffung, Instandhaltung und Nutzung sind teilweise sehr teuer; gerade im privaten Umfeld bedeutet das zusätzlich finanzielle Belastungen. Für Pflegefachkräfte könnte der vermehrte Einsatz zu einer grundlegenden Veränderung des Berufs führen: Sie könnten sich in Zukunft mehr um die Technologien als um Menschen kümmern müssen. Im schlimmsten Fall würde die Wartung der Technologien ein zusätzlicher Arbeitsinhalt werden, den die Pflegefachkräfte zusätzlich in ihrem eng getakteten Arbeitsalltag bewältigen müssen.
Eine Aufgabe der Ethik ist es festzustellen, welche moralischen Einstellungen in der Gesellschaft verbreitet sind, und sie zu bedenken. Mit Blick auf intelligente Assistenzsysteme in der Demenzpflege haben wir das in unserem Projekt durch Interviews mit Menschen mit Demenz, ihren Angehörigen und Pflegenden, sowie Expert*innen getan. Eine weitere Aufgabe der Ethik ist es, aus diesen Ergebnissen normative Schlussfolgerungen zu ziehen. In unserem Fall heißt das: Ethiker*innen überlegen, wie der Einsatz intelligenter Assistenzsysteme so gestaltet werden kann, dass er für die beteiligten Personen gut ist und zu einem guten Leben, einer guten Versorgung von Menschen mit Demenz beitragen kann:
Es ist wichtig, dass alle Menschen mit Demenz Zugang zu schnellem und stabilem Internet haben. Nur so können sie von den Chancen und Möglichkeiten digitaler Assistenztechnologien profitieren. Um dies zu erreichen, muss sowohl in ländlichen Regionen als auch in Pflegeeinrichtungen die digitale Infrastruktur ausgebaut und gefördert werden.
Es ist wichtig, dass Menschen mit Demenz wissen, welche Chancen und Risiken mit dem Einsatz intelligenter Assistenztechnologien in ihrer Versorgung verbunden sind und dass sie wissen, wie man die Technologien sinnvoll nutzt. Nur mit diesem Wissen können sie vernünftig entscheiden, ob und in welchem Umfang sie eine Assistenztechnologie nutzen wollen — oder nicht. Um dies zu erreichen, müssen Bildungs- und Informationsangebote geschaffen und gestärkt werden. Diese müssen niedrigschwellig, lokal und zugehend seien.
Es ist wichtig, dass Menschen mit Demenz selbst entscheiden, welche Assistenztechnologien sie in welchem Umfang und in welcher Art und Weise nutzen wollen. Nur so kann sichergestellt werden, dass die Technologien dem Wohl der Betroffenen dienen und nicht aus ökonomischen Gründen oder zum Vorteil anderer Personen eingesetzt werden. Um dies zu erreichen, müssen sowohl in der häuslichen als auch der institutionellen Pflege Entscheidungsstrukturen etabliert werden, die den Bedarfen und Wünschen der Menschen mit Demenz Priorität einräumen. Wenn Betroffene sich gegen den Einsatz intelligenter Assistenzsysteme entscheiden, muss dies respektiert werden.
Um die Chancen von intelligenten Assistenztechnologien zu verwirklichen und ihre Risiken möglichst klein zu halten, muss sich ihr Einsatz zuerst und vor allem an den Bedarfen und Wünschen der Betroffenen ausrichten. Außerdem müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die es jeder Betroffenen und jedem Betroffenen ermöglichen, an den Chancen der Digitalisierung teilzuhaben.
Wenn dies gewährleistet ist, können intelligente Assistenztechnologien einen wertvollen Beitrag zur Versorgung von Menschen mit Demenz und ihrer Lebensqualität leisten.
Über insgesamt fünf Termine im Mai und Juni 2022 diskutierten 17 interessierte und engagierte Bürger*innen die Chancen und Risiken rund um den Einsatz von GPS-Ortungssystemen für Menschen mit Demenz. Diese Diskussion hat auch vor dem Hintergrund steigender Erkrankungszahlen eine große Relevanz – laut der Deutschen Alzheimer Gesellschaft könnte die Zahl von Menschen mit Demenz in Deutschland bis 2050 von 1,6 Millionen Menschen (Stand: 2020) auf bis zu 2,8 Millionen anwachsen.1
Häufige Symptome von Demenz umfassen verschiedene Formen der Gedächtnisstörung, eine Beeinträchtigung der Auffassungsgabe, der Sprache, des Denkvermögens oder auch der Orientierung.2 Bei circa 60 Prozent aller Betroffenen zeigt sich zudem eine sogenannte Hinlauftendenz, die sich in einem ziellosen umherwandern äußern kann. Dies stellt nicht nur eine Gefahr für die Betroffenen selbst dar, sondern setzt auch Angehörige und Pflegepersonal unter enormen Stress.3 Hierfür stellt sich die Frage nach dem Einsatz von GPS-Ortung für Menschen mit Demenz.
Unter Ortungssystemen für Menschen mit Demenz versteht man technische Hilfsmittel zur Positionsbestimmung der jeweiligen Person. Mithilfe dieser Technologie, die beispielsweise in Uhren, Smartphones oder Kleidungsstücken integriert werden kann, können Menschen mit Demenz zum einen eigenständig ihre Position bestimmen, zum anderen ermöglicht die Technik anderen Personen – wie beispielsweise Pflegekräften oder Angehörigen – die Bestimmung des Aufenthaltsortes des Trägers oder der Trägerin. Ob und wie eine solche Technologie eingesetzt werden sollte, ist eine Frage, die nach einer offenen, vielstimmigen Auseinandersetzung verlangt, für die das Bürgerforum den organisatorischen Rahmen bieten sollte.
Digitales Bürgerforum
Anders als bei vielen anderen Versuchen der aktiven Bürgerbeteiligung in Deutschland, fand das Bürgerforum ausschließlich online statt: „Wir hoffen, dass der erfolgreiche Abschluss unserer Veranstaltung richtungsweisend dafür sein kann, partizipative Verfahren wie dieses künftig auch in digitalen Formaten zu etablieren“, betont darum Projektleiterin Prof. Dr. Silke Schicktanz vom Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der UMG. Gemeinsam mit Prof. Dr. Mark Schweda von der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und Dr. Ruben Sakowsky vom Institut für Ethik und Geschichte der Medizin moderierte sie die Online-Veranstaltung.
Digitale Formate wie dieses erweisen sich nicht nur als Corona-sichere Alternative zum Präsenzformat, sondern erlauben darüber hinaus die Begegnung von Menschen mit verschiedensten Hintergründen. „Bei unseren Teilnehmenden handelte es sich um eine Zufallsauswahl unter Berücksichtigung von Alter, Geschlecht und Beruf“, so Dr. Ruben Sakowsky, „es kam eine bunte Gruppe mit ausgewogenem Geschlechterverhältnis aus verschiedenen Altersgruppen und mit unterschiedlichen beruflichen Hintergründen zusammen.“ Im digitalen Plenum waren Personen zwischen 18 und 67 Jahren und aus ganz Deutschland vertreten. Darunter Angestellte, Rentner*innen, Arbeitssuchende, Schüler*innen, Student*innen und Selbstständige.
Eine informierte Diskussion
Wie schon beim Anfang diesen Jahres abgeschlossenen Bürgerforum zum Thema Feedback bei Pandemie-Apps, wurden die Teilnehmenden durch drei Expert*innen aus verschiedenen Fachbereichen ins Themengebiet eingeführt. Dr. Herlind Megges, Referentin in der Abteilung „Demografischer Wandel, Ältere Menschen, Wohlfahrtspflege“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, erläuterte am ersten Tag des Bürgerforums, was GPS-Ortungssysteme eigentlich sind, wofür sie eingesetzt werden und welche Herausforderungen sich durch ihren Einsatz stellen. Zudem erklärte sie, was man überhaupt unter Demenz versteht und warum das Thema Ortung hierfür eine Rolle spielen könnte.
Am zweiten Tag sprach Prof. Dr. Manfred Hülsken-Giesler, Berufspädagoge und Pflegewissenschaftler von der Universität Osnabrück, über die Chancen und Nutzen des Einsatzes von Ortungstechnologien für Personen mit Demenz, aber auch für Familienangehörige und professionelle Pflegekräfte. Diese Ausführungen ergänzte Prof. Dr. Arne Manzeschke, Leiter des Instituts für Pflegeforschung, Gerontologie und Ethik an der Evangelischen Hochschule Nürnberg, um die Risiken und Grenzen des Einsatzes solcher Technologien aus ethischer und anthropologischer Perspektive.
Nach jedem Vortrag bekamen die Teilnehmenden die Möglichkeit, mit den Expert*innen ins Gespräch zu kommen und offene Fragen zu klären. Im Anschluss daran diskutierten die Bürger*innen in Breakout-Räumen der Videokonferenz-Software Zoom untereinander über das Für und Wider von GPS-Ortung bei Demenzfällen. Um das komplexe Thema möglichst effektiv zu bearbeiten, arbeiteten die Teilnehmenden im Plenum vier Schwerpunkte heraus, die in die Handlungsempfehlung einfließen sollten: ethisch-moralische Betrachtungen; Vorsorge und alternative Ansätze; Datenschutz, Datensicherheit und Privatsphäre; und praktisch-technische Handhabung der Geräte. Anschließend wurden diese Themen in kleineren Arbeitsgruppen vertieft und später im Gesamtdokument zusammengeführt. Mithilfe der Software Miro, einem browserbasierten, interaktiven Whiteboard, visualisierten die Teilnehmenden dabei ihren aktuellen Arbeitsstand. So arbeiteten sie mittels verschiedener Online-Tools zwar räumlich getrennt, aber dennoch gemeinsam an strittigen Fragestellungen.
Übergabe an Entscheidungsträger*innen aus Gesundheitswesen und Technikentwicklung
Am Ende dieser insgesamt fünftägigen Auseinandersetzung ist eine 15-seitige Handlungsempfehlung zum Einsatz von Ortungssystemen für Menschen mit Demenz entstanden, die am 12 Juli 2022 – ebenfalls online – an Organisationen aus Gesundheitswesen und Technikentwicklung übergeben wurde. Vertreten wurden diese durch Saskia Weiß, Geschäftsführerin der Deutschen Alzheimer Gesellschaft (DAlzG), Prof. Dr. Hermann Requardt von der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech), Heidrun Mollenkopf von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen (BAGSO) und Martina Röder, Vorsitzende des Deutschen Pflegeverbandes (DPV).
Die Gäste bedankten sich für die Stellungnahme der Bürger*innen zu diesem wichtigen Thema und spiegelten, dass viele der Überlegungen und Forderungen an ihr Tagesgeschäft anknüpften. Heidrun Mollenkopf von der BAGSO begrüßte beispielsweise die vielschichtige Auseinandersetzung, die im Rahmen des Bürgerforums stattgefunden habe, „insbesondere, dass sie wirklich die Person in den Mittelpunkt stellen, ihr Recht auf Selbstbestimmung, auf soziale Teilhabe und dass sie auch sehr ausführlich die Ambivalenzen und die möglichen Konflikte diskutieren“. Einige Interessenskonflikte, beispielsweise von Forschung und Datenschutz, sowie Abweichungen von Anspruch und Realität wurden in den Statements der Entgegennehmenden ebenfalls deutlich.
Die Bürger*innen kamen zu dem Schluss, dass sie den Einsatz von Ortungssystemen für Menschen mit Demenz tendenziell befürworten. Allerdings fordern sie eine absolute Freiwilligkeit der Maßnahmen. So müsse vermieden werden, dass Menschen indirekt zu einer Ortung gezwungen werden, indem Heimplätze beispielsweise nur durch eine entsprechende Zustimmung vergeben werden. Zudem betonen die Teilnehmenden in ihrer Handlungsempfehlung den zentralen Stellenwert von breiter gesellschaftlicher Aufklärung, sowohl über Demenz als auch über die Möglichkeiten und Grenzen technischer Assistenzsysteme. Nur so könne gewährleistet werden, dass Menschen mit Demenz im Idealfall in einer Vorausverfügung selbst bestimmen können, ob sie einer Ortung zustimmen. Saskia Weiß, Geschäftsführerin der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, führte an, dass dies ihrer Erfahrung nach in der Praxis bisher leider selten der Fall gewesen sei. Martina Röder vom Deutschen Pflegeverband betonte, dass die Forderung der Bürger*innen hier mit den Wünschen der Pflegenden und Pflegeinstitutionen übereinstimme.
Offene Fragen zum Datenschutz
Weiterhin müsse laut der Teilnehmenden der Datenschutz im Rahmen der deutschen oder europäischen Datenschutzverordnungen gewährleistet sein und ein Missbrauch der sensiblen Ortungsdaten unbedingt vorgebeugt werden. Dieser starke Fokus auf Fragen des Datenschutzes wurde in den Stellungnahmen der Interessenvertreter*innen zum Teil mit Überraschung aufgenommen. So erklärte Saskia Weiß, dass das Thema Datenschutz in den Beratungsgesprächen der DAlzG mit Betroffenen und Angehörigen zumeist keine große Rolle spiele. Vielmehr stünde für die Angehörigen in erster Linie die Sorge um die erkrankte Person im Vordergrund.
Prof. Dr. Hermann Requardt (acatech) wies zudem darauf hin, dass die Nutzerdaten von Betroffenen dazu dienen könnten, die Diagnostik und die Therapie von Demenzerkrankungen zu verbessern. „Wir werden das Krankheitsbild nur dann wissenschaftlich beherrschen lernen, wenn wir sehr komplexe und vollständige Daten haben“, so Requardt. Insbesondere die Früherkennung sei nur dann möglich, wenn viele Datenstrukturen miteinander kombiniert werden können.
Konsens in der Ausrichtung
Großer Konsens bestand dagegen in der prinzipiellen Ausrichtung aller Anstrengungen auf das Wohlergehen der Betroffenen. Die Teilnehmerin Anna-Lena Baasner betonte in der Vorstellung der Handlungsempfehlung, dass es vor allem darum gehen müsse, Menschen mit Demenz die maximale Teilhabe an unserer Gesellschaft zu ermöglichen. Martina Röder vom Deutschen Pflegeverband unterstütze diese Position: „Wir von der Seite der Pflegeorganisation oder der Verbände stehen eindeutig dazu, dass wir Patienten- und Bewohnersicherheit im Mittelpunkt der Verbesserung der Pflegequalität sehen möchten.“
Auch in den Kriterien, die zur Bewertung von Technologie angelegt werden können, fand sich eine große Schnittmenge zwischen Teilnehmenden und Interessensvertreter*innen. Die Teilnehmerin Judith Kunze stellte sowohl die technische Praktikabilität als auch die Verlässlichkeit der verwendeten Geräte heraus. Ortungsgeräte müssten leicht bedienbar und in hohem Maße verlässlich sein. Das betreffe neben der Handhabung auch die Wartung. Um die Technik möglichst sicher zu machen, wären auch sogenannte Sturzsender erwägenswert. Diese senden ein Notsignal aus, sobald das Gerät einen Sturz registriert hat, ohne dabei medizinische Daten zu speichern. Dies deckt sich laut Saskia Weiß auch mit einem vom DAlzG entwickelten Kriterienkatalog zur Bewertung technischer Assistenzsysteme, der neben der Funktionalität auch die Möglichkeit zur individuellen Anpassung sowie die rechtliche Sicherheit aufführt.
Blick in die Zukunft
Professorin Schicktanz, die die Übergabe gemeinsam mit Dr. Ruben Sakowsky moderierte, zeigte sich zum Abschluss der Veranstaltung beeindruckt von den Diskussionsergebnissen der Teilnehmenden, denen es gelungen sei, „in kurzer Zeit eine ganze Reihe sehr wichtiger Punkte auszuarbeiten und dabei die verschiedenen moralischen Konflikte deutlich zu machen.“ Sie merkte aber auch an, dass es wichtig sei, die aufgeworfenen Fragen in Zukunft weiter zu bearbeiten. Das Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der UMG möchte dabei als vermittelnde Institution dienen, indem sie Betroffene und Angehörige, Organisationen und Verbände, aber auch Presse und Öffentlichkeit miteinander ins Gespräch bringt. Dazu wird das Team um Professorin Schicktanz gezielt auf Medien und Pressestellen zugehen, um die Handlungsempfehlung ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Auch eine wissenschaftliche Auswertung des Bürgerforums, insbesondere mit Blick auf das Online-Format, steht noch aus und soll andere Forschende dazu ermutigen, vergleichbare Verfahren der Bürgerbeteiligung zu erproben.
Hintergrund:
Das Bürgerforum ist Teil des Online-Beteiligungsprojektes „Unser Gesundheitswesen von morgen: Digitalisierung – Künstliche Intelligenz – Diversität“ des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin der UMG. Das Projekt bezieht die Öffentlichkeit ein und will Expert*innen und die interessierte Öffentlichkeit in eine gesellschaftliche Diskussion über Chancen und Risiken eines digitalisierten Gesundheitssystems bringen. Es wird als „Zukunftsdiskurs“ bis September 2022 durch das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur aus Mitteln des Niedersächsischen Vorab gefördert. Die Leitung des Projekts hat Prof. Dr. Silke Schicktanz vom Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der UMG.Das Online-Bürgerforum fand in Kooperation mit Prof. Dr. Mark Schweda von der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg statt.
Ein internationales Gemeinschaftsprojekt untersuchte die Einstellung der Interessenvertreter zu Prädiktiven Tests und einer frühzeitigen Diagnose der Alzheimer-Krankheit
Die Verfügbarkeit eines Tests, der die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung der Alzheimer-Krankheit in den nächsten zehn Jahren vorhersagen könnte, klingt aufregend. Dank der jüngsten Fortschritte in der Erforschung von Biomarkern (biologischen Markern) und der Entwicklungen in der prädiktiven Medizin könnte es bald möglich sein, Personen mit einem hohen Risiko für die Entwicklung von spät einsetzender Alzheimer-Krankheit zu identifizieren, noch bevor die ersten Symptome auftreten. Die Nachfrage nach Tests nimmt zu, und Medienberichte werden höchstwahrscheinlich weiterhin ein solches öffentliches Interesse auslösen, obwohl es keine Heilung und keine wirksamen Behandlungsmöglichkeiten gibt, wobei letztere wahrscheinlich mit großen psychischen Belastungen einhergehen und Unsicherheiten hinsichtlich der Vorhersagekraft der Tests bestehen.
Die Verwendung von Biomarkern wird im klinischen Kontext noch nicht empfohlen. Die psychosozialen, ethischen und kulturellen Aspekte der Informationen über Demenzrisiko, einschließlich prädiktiver biomarkerbasierter Tests und biomarkerbasierter Formen der Frühdiagnose in präklinischen Stadien der Demenz, müssen noch erforscht werden. Unser Projekt „Warum Wissen oder Nicht-Wissen? Die Einstellungen von Interessenvertretern (Stakeholdern) zur Diagnose ‚Prodromale Demenz‘: Psychosoziale und ethische Auswirkungen im Interkulturellen Vergleich“ (Laufzeit: 2018 – 2021, Förderung: Deutsch-Israelischen Stiftung für Wissenschaftliche Forschung und Entwicklung, GIF) berühren diese drängenden Fragen.
Was haben wir getan?
In unserer Studie untersuchten wir mit empirischen Methoden die Erfahrungen, Einstellungen und Bedenken der wichtigsten Interessengruppen (d. h. Personen mit leichten neurokognitiven Störungen, ihre Angehörigen, Familienmitglieder von Menschen mit Demenz, Experten und Laien). Wir haben Fokusgruppen und Interviews mit den relevanten Stakeholder-Gruppen durchgeführt. Wir wollten herausfinden, ob die Unterschiede in der Einstellung zu AD-Tests auf kultureller Ebene variieren. Deshalb wurden in unsere Studie Teilnehmer*innen aus Deutschland und Israel einbezogen. Da viele Studien zu verschiedenen bioethischen Themen bereits gezeigt haben, dass die Einstellungen des Menschen durch die in den nationalen Kontexten verankerten kulturellen Werte beeinflusst werden können, haben wir uns zum kulturellen Vergleich auf Deutschland und Israel bezogen.
Unsere Ergebnisse in Kürze
Wir ermittelten psychosoziale Aspekte (z.B. Stigmatisierung), ethische Aspekte (z.B. moralische Beweggründe, d.h. grundlegende moralischen Haltungen oder Meinungen) und kulturelle Aspekte (z.B. Wechselbeziehungen, Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den verschiedenen Interessengruppen auf nationaler und länderübergreifender Ebene) von Informationen über Demenzrisiken (d.h. prädiktive Tests und eine sehr frühe Diagnose im präklinischen Stadium der Alzheimer-Krankheit). Unsere Ergebnisse zeigen, dass es in beiden Ländern keine starke Tendenz zugunsten von prädiktiven Tests und Frühdiagnosen gibt. Die Entscheidungen und Einstellungen der oben genannten Interessengruppen wurden stark von der Angst vor der Krankheit und dem Fehlen einer Heilung (Vergeblichkeit) bestimmt. Wir stellten aber auch einige Unterschiede fest, die sowohl auf kultureller Ebene als auch zwischen den Gruppen variieren, wie z.B. eine größere Betonung der Autonomie bei den deutschen Teilnehmer*innen und eine größere Betonung des Vertrauens in die eigene Familie bei den israelischen Teilnehmer*innen.
Was kommt als Nächstes?
Unsere Studie unterstreicht die Bedeutung einer detaillierten, multiprofessionellen Beratung für die zukünftige Lebensplanung und die Information der Personen, die einen prädiktiven Test nutzen möchten, sowie ihrer Familien.
Das Fazit unserer Studie lautet, dass prädiktive Informationen mit moralischen und psychosozialen Dilemmata einhergehen. Einerseits kann es von Vorteil sein, darüber informiert zu werden, dass man ein Risiko hat (z.B. für Planung des späteren Lebens durch die Organisation der Pflege, Vorbereitung von Patientenverfügungen und frühzeitige Unterstützung), andererseits kann es auch schädlich sein (z.B. durch Stigmatisierung, Diskriminierung). Die Diskussion über ethische und rechtliche Fragen, wie und wann Informationen über prädiktive Risiken offengelegt werden sollen, geht weiter. Es bestehen keine klaren Leitlinien, die medizinischen Fachkräften detaillierte Empfehlungen geben sollten für die Offenlegung der auf Biomarkern basierenden Tests für die Früherkennung der Alzheimer-Krankheit. Mit dem technologischen Fortschritt wird die Anwendung von Biomarkern wahrscheinlich bald Teil der täglichen klinischen Routine werden. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, dass das Gesundheitssystem auf solche Situationen vorbereitet ist (z.B. durch die Einrichtung multiprofessioneller Beratungsdienste, die Bedeutung der Kommunikation, den Bedarf an Forschung usw.). Wir hoffen, dass die empirischen Ergebnisse unserer Studie in die Entwicklung von Leitlinien für die Kommunikation von Demenzrisiken im klinischen Umfeld einfließen werden.
Das Projekt wurde in Zusammenarbeit von Prof. Silke Schicktanz, Dr. Zümrüt Alpinar Sencan von der Universitätsmedizin Göttingen, Deutschland, und Prof. Perla Werner, Dr. Natalie Ulitsa von der Universität Haifa, Israel, durchgeführt. Die Ergebnisse sind von unschätzbarem Wert, denn es wurden mehrere hochwertige Publikationen veröffentlicht und ein internationales Online-Symposium veranstaltet, auf dem die aktuelle Demenzforschung, Vorhersage und Risikominderung diskutiert werden. (Detaillierte Informationen finden Sie unter https://egmed.uni-goettingen.de/de/forschung/altersmedizin-demenz//)
Unter welchen Bedingungen sind Menschen bereit, Einschränkungen des öffentlichen Lebens, der Wirtschaft und der Gesundheitsversorgung im Zuge sogenannter Lockdown-Maßnahmen zum Zwecke der Pandemie-Bekämpfung zu akzeptieren? Dies untersucht eine Studie unter Führung der Health Economics Research Unit der University of Aberdeen unter Mitwirkung eines Mitarbeiters des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin der Universitätsmedizin Göttingen, zu der nun erste Ergebnisse veröffentlicht wurden.
Hintergrund
Zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie haben Regierungen weltweit zu sogenannten Lockdown-Maßnahmen gegriffen. Diese haben die Begrenzung menschlicher Kontakte zum Ziel, wodurch die Ausbreitung des Virus verlangsamt oder gestoppt werden soll. Lockdown-Maßnahmen bringen nicht nur Einschränkungen des öffentlichen Lebens mit sich – etwa durch den Stopp von Großveranstaltungen oder Kontaktbeschränkungen – sondern haben auch Auswirkungen auf die Wirtschaft und die Gesundheitsversorgung, in letzterer Hinsicht beispielsweise durch die Verzögerung von aufschiebbaren Operationen.
Die Effektivität von Lockdown-Maßnahmen hängt maßgeblich von der Mitwirkung der Bevölkerung ab. Deswegen ist es besonders wichtig, dass diese bereit ist, die beschlossenen Einschränkungen mitzutragen und dass Sinn und Zweck der Maßnahmen angemessen kommuniziert werden.
In einer großangelegten Studie haben Forscher aus Aberdeen und Göttingen nun untersucht, unter welchen Bedingungen britische Bürger bereit sind, Lockdown-Maßnahmen zu akzeptieren.
Vorgehen
Die Studie stützt sich auf eine Umfrage unter 4120 Erwachsenen aus England, Schottland, Wales und Nordirland. Probanden wurden gebeten, zwischen verschiedenen hypothetischen Lockdown-Szenarien zu wählen, die sich hinsichtlich der Effektivität, des Grades der Einschränkungen, sowie der Länge der Lockdown-Maßnahmen unterschieden und unterschiedliche Effekte auf das persönliche Einkommen, die Arbeitslosenzahlen des Landes und auf die Bereitstellung der Gesundheitsversorgung hatten. Die Szenarien unterschieden sich auch hinsichtlich der Anzahl der Leben, die durch eine verlangsamte Verbreitung des Virus voraussichtlich gerettet werden könnten (siehe Bild).
Mittels dieser sogenannten „Discrete Choice Experiment“-Methode kann ermittelt werden, welche Kompromisse Probanden bei der Bewertung dieser Szenarien eingehen. Dabei lassen sich Vergleiche zwischen verschiedenen Eigenschaften von Lockdowns anstellen, indem ermittelt wird, wie sich eine Veränderung der Lockdown-Eigenschaften auf die Präferenz zur voraussichtlichen Rettung von Leben auswirken. Die zugrundeliegende Vermutung ist hier, dass Menschen zu stärkeren Einschränkungen bereit sind, sofern die damit verbundenen Maßnahmen mehr gerettete Leben durch eine Verlangsamung der Ausbreitung des Virus zur Folge haben. Die relative Wichtigkeit von Lockdown-Eigenschaften lässt sich somit dadurch ermitteln, dass errechnet wird, wie viele zusätzliche Leben gerettet werden müssten, damit eine Einschränkung akzeptiert wird. Je größer diese Zahl, desto stärker also die Ablehnung einer solchen Einschränkung. Weitere Informationen zum methodischen Vorgehen der Studie wurden bereits 2021 im Fachjournal BMJ Open veröffentlicht.
Ergebnisse
Eine Mehrheit der Befragten war bereit, eine höhere Sterblichkeit zu akzeptieren im Austausch gegen Lockdown-Maßnahmen, die weniger strikt oder kürzer sind oder keine Verzögerungen bei verschiebbaren Operationen zur Folge haben. Rund ein Fünftel der Befragten war um keinen in der Befragung vorgesehenen Preis bereit, eine höhere Sterblichkeit zu akzeptieren. Eine solche Priorisierung der Sterblichkeit kam bei Menschen mit höheren Bildungsabschlüssen häufiger vor. Menschen in England hatten eine größere Abneigung gegen strikte Lockdown-Maßnahmen als Menschen in Schottland, Wales und Nordirland und waren bereit eine höhere Sterblichkeit im Austausch gegen eine Lockerung der Maßnahmen zu akzeptieren.
Weitere Forschung
Zusätzlich zu demographischen Daten und Lockdown-Präferenzen erhob die Studie auch, welche Rolle moralische Überzeugungen für die Probanden spielten. Durch die Auswertung dieser Daten erhofft sich das Team Aufschlüsse über den Effekt moralischer Werte auf die Kompromissfindung in schwierigen moralischen Entscheidungssituationen. Durch eine bessere Anpassung der Lockdown-Maßnahmen an die Überzeugungen der Bevölkerung könnten politische Entscheidungsträger die Akzeptanz und somit auch die Effektivität der Maßnahmen maßgeblich steigern. Unter Bezugnahme auf, und Berücksichtigung von, moralischen Werten, die der Bevölkerung besonders wichtig sind, könnte zudem effektiver für angemessene Lockdown-Maßnahmen geworben werden. Eine entsprechende Publikation ist in Arbeit.
Bis Ende Januar 2022 wurde die Corona-Warn-App über 41 Millionen Mal heruntergeladen1. Pandemie-Apps wie die Corona-Warn-App sollen dabei helfen, Infektionsketten nachzuvollziehen und zu unterbrechen, indem sie Nutzer*innen vor Risikokontakten warnen und diesen zugleich die Chance bieten, eine eigene Infektion anonymisiert mitzuteilen. Auf diese Weise bergen Pandemie-Apps zusätzlich das Potenzial, auf das Sicherheits- und Unsicherheits-Empfinden ihrer Nutzer*innen einzuwirken. Aber wie genau funktionieren Pandemie-Apps eigentlich? Sind sie ein neutrales technologisches Werkzeug zur Bekämpfung einer Pandemie? Und welche Chancen und Risiken sieht die Zivilgesellschaft in ihnen? Das Projekt „Unser Gesundheitswesen von morgen: Digitalisierung – Künstliche Intelligenz – Diversität“, das vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur aus Mitteln des Niedersächsischen Vorab gefördert wird, hat sich genau diese Fragen gestellt und im Rahmen eines innovativen Online-Bürgerforums nach möglichen Antworten gesucht.
„Es fehlen bislang Diskussions- und Reflexionsforen, die auch der Vielfalt von Ansichten, Werten und Perspektiven von Bürger*innen und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen gezielt Rechnung tragen“, erklärt die Leiterin des Projektes, Frau Professorin Dr. Silke Schicktanz vom Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universitätsmedizin Göttingen, die Motivation hinter dem Projekt. Das Online-Bürgerforum wurde als Reaktion auf diese Leerstelle entwickelt und begreift die Diskussion medizinethischer Themen als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Direkte Bürgerbeteiligung
Doch was ist ein Bürgerforum überhaupt? Kurz gesagt: ein Bürgerforum ist eine Form der direkten Bürgerbeteiligung, in dessen Rahmen sich Personen aus der Zivilgesellschaft zusammenfinden und ein gesellschaftlich relevantes Thema diskutieren. Im Rahmen des Forums bekommen die Bürger*innen die Chance, Expert*innen zum jeweiligen Thema zu befragen, um sich auf diese Weise eine informierte Meinung bilden zu können. Am Ende eines Bürgerforums soll ein gemeinsames Positionspapier entstehen, das als Handlungsempfehlung an relevante Entscheidungsträger*innen aus der Politik, der Wissenschaft oder der Forschung übergeben werden kann.
„Bei deliberativen Ansätzen zur Bürgerbeteiligung steht der Austausch zwischen Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Politik im Vordergrund“, so Dr. Ruben Sakowsky, der das Bürgerforum gemeinsam mit Julia Perry organisierte und moderierte. „Sozialwissenschaftliche Forschung zu den Präferenzen und Standpunkten von Bürgern und Betroffenen in Gesundheitsfragen wird hier nicht als Einbahnstraße konzipiert, sondern als eine Form des Dialogs auf Augenhöhe. Es freut uns sehr, dass wir für diese wichtige Form der Partizipation neue Online-Methoden erproben konnten, die die zivilgesellschaftliche Beteiligung an Fragen der Gesundheitsforschung und -politik weiter voranbringen.“
Zum Feedback von Pandemie-Apps
Im November 2021 war es soweit: 10 Studierende2 aus verschiedenen Fachrichtungen der Georg-August-Universität Göttingen sowie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg fanden sich an drei Abenden via Zoom jeweils für zwei bis drei Stunden zusammen, um gemeinsam über Pandemie-Apps zu diskutieren. Unter dem Titel „Forschungsorientierte Pandemie-Apps“, womit Programme verstanden werden, die auf Smartphones von Nutzer*innen laufen und Daten für die Gesundheitsforschung zum Zwecke der Untersuchung von pandemischen Infektionskrankheiten bereitstellen, stand insbesondere das Feedback-Verhalten solcher Apps im Blickpunkt. Diskutiert wurde unter anderem die Frage, welche Rückmeldungen diese ganz konkret an ihre Nutzer*innen ausgeben. Das können zum einen generelle Informationen sein, beispielsweise zum sicheren Verhalten während einer Pandemie. Zum anderen aber bezieht sich Feedback auch auf aufbereitete und personalisierte Informationen, die auf Grundlage von Nutzerdaten hergestellt werden – beispielsweise zum persönlichen Infektionsrisiko, das über eine Prozentangabe oder eine Warnampel dargestellt werden kann.
Feedback stellt somit eine Möglichkeit dar, Nutzer*innen von Pandemie-Apps im Austausch für die Daten, die sie der Forschung bereitstellen, eine Gegenleistung in Form nützlicher Informationen anzubieten. Neben dem offensichtlichen Nutzen eines solchen Feedbacks für ihre Nutzer*innen, stellen sich dennoch eine Reihe ethischer Herausforderungen, beispielsweise hinsichtlich ihrer Datenbasis. Um einige dieser komplexen Fragestellungen faktenbasiert diskutieren zu können, bekamen die Studierenden die Möglichkeit, drei Expert*innen aus verschiedenen Disziplinen zum Thema zu befragen.
Argumentieren auf Faktenbasis
Am ersten Tag des Bürgerforums erläuterte Dr. Tina Jahnel vom Leibniz WissenschaftsCampus Digital Public Health der Universität Bremen was Pandemie-Apps eigentlich sind, wofür sie eingesetzt werden und welche Herausforderungen sich durch ihren Einsatz stellen können. Sie beleuchtete darüber hinaus, welche Formen des Feedbacks durch Pandemie-Apps denkbar sind. Herr Professor Dr. Rüdiger Pryss vom Institut für Klinische Epidemiologie und Biometrie der Julius-Maximilians-Universität Würzburg erweiterte diese Ausführungen am zweiten Tag um die technischen Details der App-Entwicklung und erklärte anhand konkreter Beispiele aus der eigenen Forschung den Nutzen und die Bedeutung von Feedback in der Entwicklung von Gesundheits-Apps. Diese Ausführungen bereicherte Dr. Joschka Haltaufderheide vom Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin der Ruhr-Universität Bochum schließlich um die ethischen Dimensionen des App-Feedbacks. Anhand der Corona-Warn-App stellte er die Beziehungen von Technologie und Nutzer*innen beispielhaft dar.
Nach jedem Vortrag bekamen die Studierenden die Möglichkeit, mit den Expert*innen ins Gespräch zu kommen, um so offene Fragen zu klären. Im Anschluss daran diskutierten die Studierenden in einem Zoom-Breakout-Raum untereinander über das Für und Wider bestimmter Feedback-Arten und über mögliche Ansätze für Verbesserungen gegenwärtiger Pandemie-Apps wie der Luca-App oder der Corona-Warn-App. Mithilfe der Software Miro, einem browserbasierten, interaktiven Whiteboard, visualisierten die Studierenden ihren aktuellen Arbeitsstand. So arbeiteten sie mittels verschiedener Online-Tools zwar räumlich getrennt, aber dennoch gemeinsam an problemorientierten Fragen. Unterstützt wurden sie dabei von den Moderator*innen des Projektteams, Dr. Ruben Sakowsky und Julia Perry.
Zu Beginn des dritten Tages bekamen die Teilnehmenden von der Moderation schließlich eine Einführung in das Schreiben von Handlungsempfehlungen mit themenunabhängigen Beispielen und Vorschlägen zur konkreten Umsetzung und Ausgestaltung. Anschließend arbeiteten die Studierenden auf Grundlage der gemeinsamen Diskussionsergebnisse einen Entwurf für eine Handlungsempfehlung aus, die sich an die wissenschaftliche Gesundheitsforschung richten sollte. Eine interne Redaktionsgruppe, die die Studierenden am Ende von Tag 3 bestimmten, arbeitete diesen Entwurf schließlich zu einem Fließtext aus, ehe dieser im Plenum final diskutiert und konsentiert wurde.
Im Dialog mit der Gesundheitsforschung
Am 26. Januar 2022 übergaben drei der Studierenden (Gilbert Hövel, Janina Scholz und Lara Wiechers) stellvertretend für die gesamte Gruppe die Handlungsempfehlung an Frau Professorin Dr. Dagmar Krefting, Direktorin des Instituts für Medizinische Informatik der Universitätsmedizin Göttingen. Sie leitet das Projekt „Coordination on mobile pandemic apps and solution sharing“, kurz COMPASS3, welches sich dem Aufbau einer bundesweiten Plattform widmet, die sich die „Bereitstellung konkreter Methoden und Werkzeuge für den Einsatz von Gesundheitsapps in einer Pandemie“4 zum Ziel gesetzt hat. Prof. Krefting erläuterte im Rahmen des Zusammentreffens die Wichtigkeit einer einheitlichen Koordination von Projekten und Ressourcen, um effektiv App-Lösungen für die gegenwärtige Pandemie zu schaffen. Das „Netzwerk Universitätsmedizin“, welches den Zusammenschluss und die Kooperation aller 36 bundesweiten Universitätskliniken bezeichnet, sei ein weiterer Schritt, um der Pandemie im Verbund zu begegnen.
Im Anschluss an die Vorstellung des COMPASS-Projektes stellten die Studierenden einzelne Punkte ihrer Handlungsempfehlung vor. So sollten Nutzer*innen von Pandemie-Apps zum Beispiel die Möglichkeit bekommen, freiwillig mehr Daten preiszugeben, um dafür im Gegenzug ein umfangreicheres Feedback zum eigenen Ansteckungsrisiko zu erhalten. Darum sei es überdies sinnvoll, auch Angaben zum genauen Ort und der Zeit von Kontakten machen zu können, um so eine bessere Aufklärung bei Risikokontakten zu gewährleisten. Prof. Krefting begrüßte diese Anregung und verwies auf die informationelle Selbstbestimmung von Nutzer*innen, von der diese auch durch freiwillige Datenspenden Gebrauch machen könnten. Um dies vollumfänglich zu gewährleisten, müssten Pandemie-Apps funktional offener werden als sie es gegenwärtig sind.
Darüber hinaus regten die Studierenden in ihrer Handlungsempfehlung an, dass neben den üblichen Warnhinweisen, die beispielsweise nach einem positiven Corona-Test einer Kontaktperson in der App erscheinen, auch positiv konnotiertes Feedback ermöglicht werden sollte, zum Beispiel darüber, wie vielen Personen die eigene Datenspende geholfen hat. Auch im sogenannten onboarding von forschungsorientierten Pandemie-Apps im Allgemeinen seien laut der Handlungsempfehlung noch Potenziale zur Verbesserung. Das onboarding bezieht sich darauf, auf welche Weise neue Nutzer*innen bei der ersten Anwendung in eine App eingeführt werden. Damit das gelingt, sei es laut der Studierenden wichtig, dass die App nach der Installation Hilfestellungen dazu gibt, wie die verschiedenen Warnmeldungen einzuordnen sind sowie eine detaillierte Aufklärung darüber, was mit den eigenen Daten geschieht und inwiefern diese bei der Aufdeckung von Infektionsketten hilfreich sein können.
Prof. Schicktanz diskutierte gemeinsam mit ihrem Team, den Studierenden sowie Prof. Krefting anschließend über die Nützlichkeit zivilgesellschaftlicher Perspektiven in der Gesundheitsforschung und richtete den Blick auch auf die Zukunft partizipativer Formate. Die engagierte Mitarbeit der Studierenden habe gezeigt, dass solche Formate zukunftsfähig seien und zusätzlich einen wichtigen Beitrag zur wissenschaftlichen Methodik von Online-Bürgerbeteiligung leisten können, so Prof. Schicktanz. Auch Prof. Krefting bekräftigte noch einmal die positive Signalwirkung eines solchen Projektes, da es zeige, dass man kein abgeschlossenes Studium hinter sich gebracht haben muss, um sich zivilgesellschaftlich einzubringen und die Forschung voranzutreiben. Auch die Studierenden äußerten sich positiv über ihre Teilnahme am Bürgerforum. Es sei schön zu sehen, so eine Teilnehmerin, dass die eigenen Ergebnisse auch tatsächlich einen Einfluss auf die Forschung hätten.
Einen herzlichen Dank an Kai Hornburg für die Ausarbeitung dieses Beitrags.
Wenn es um die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf das Leben in westlichen Gesellschaften geht, wird häufig ein Begriff aus der Optik bemüht: das Brennglas. Eine gläserne Linse oder Lupe wirkt als Brennglas, wenn das einfallende Licht durch sie gebündelt wird und einen Punkt hinter der Linse dadurch erhitzen kann – so sehr, dass z.B. Papier oder Holz Feuer fangen kann.
Im Kontext der Corona-Krise lässt sich sagen, dass bestimmte Bedingungen in unserer Gesellschaft vor der Pandemie bereits nah am Brennpunkt waren: gesellschaftliche Ungleichheiten, die nun so erhitzt werden, dass das sprichwörtliche Pulverfass zu explodieren droht. Eine weitere Ebene der Metapher liegt näher am Alltagsgebrauch der optischen Linse: Sie kann helfen, blinde Flecken sichtbar zu machen, also Konflikte und Probleme, die eher im Verborgenen lagen und jetzt deutlicher zutage treten.
Dieser Blogbeitrag stellt ein Forschungsprojekt am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin vor, welches sich einem bestimmten Problem im Brennpunkt des Gesundheitswesens widmet: der Verteilung von knappen Ressourcen.
Ressourcen im Gesundheitswesen, das kann viel bedeuten: Einerseits geht es dabei um materielle Ressourcen, also z.B. Medikamente, Schutzausrüstung oder medizintechnische Geräte – beziehungsweise das Geld, um diese zu kaufen. Andererseits kann ein Gesundheitswesen nur gut funktionieren, wenn auch ausreichend nicht-materielle Ressourcen – wie ausgebildetes Personal – zur Verfügung stehen.
Knappe Ressourcen in der Corona-Krise
Ein bestimmtes Schlagwort fällt verlässlich, wenn es um Covid-19 und die Verteilung von medizinischen Ressourcen geht: Triage. Der französische Begriff aus der Katastrophenmedizin beschreibt einen Vorgang, in dem für mehrere Patient*innen, die alle sehr plötzlich eine bestimmte medizinische Behandlung benötigen, eine Rangfolge gebildet wird, nach der sie behandelt werden. Das ist auf der einen Seite ein gewöhnlicher Vorgang, der so in jeder Notaufnahme tagtäglich, auch außerhalb der Corona-Krise passiert. Die schwerverletzte Patientin nach einem Verkehrsunfall wird sofort behandelt, während der Patient mit dem verstauchten Knöchel warten muss. Kritisch wird es, wenn die Kapazitäten nicht ausreichen, sodass manche Patient*innen trotz eines schweren Krankheitsbilds gar nicht behandelt werden können. Dabei kann es sich für das medizinische Personal und die Patient*innen um dramatische und traumatisierende Erfahrungen handeln – gegebenenfalls wird über Leben und Tod entschieden. In der Anfangszeit der Pandemie erreichten uns Berichte z.B. aus China, Italien, den USA und Frankreich über die Knappheit von Beatmungsgeräten und die tragischen Entscheidungen, die im Zusammenhang damit getroffen werden mussten. In bestimmten Regionen in Frankreich und Italien wurden in den schlimmsten Phasen der Pandemie ausdrückliche Altersgrenzen für die Triage festgelegt. Die Patient*innen über einem bestimmten Alter wurden dann nicht an die knappen Beatmungsgeräte angeschlossen.
In Deutschland haben diese Nachrichten für viele Menschen ein Bewusstsein über die Bedrohung durch Covid-19 geschaffen. Seitens der Politik wurden die ersten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie angestoßen. Zur Triage nach festen Altersgrenzen kam es in Deutschland nicht. Die Knappheit von Ressourcen wie Schutzausrüstung und Personal hatte jedoch schwerwiegende Folgen für den Arbeitsalltag im Krankenhaus.
Die Auswirkungen solcher Ressourcenknappheit im Gesundheitswesen stellen ein zentrales Problem dar, das von Medizinethiker*innen schon vor der Corona-Krise ausgiebig diskutiert wurde.
Ressourcenverteilung in der Medizinethik
Bereits seit einigen Jahren steht fest, dass die Ressourcen im Gesundheitswesen knapper werden. Das ist zum Beispiel bedingt durch den medizinischen Fortschritt, der neue, wirksamere und oftmals teurere Innovationen mit sich bringt. Auch die Alterung der Gesellschaft lässt die Gesundheitsausgaben steigen. Deshalb wird seit einer Weile über Strategien diskutiert, wie mit den chronisch knappen Ressourcen im Gesundheitswesen gerecht umgegangen werden sollte. Zuallererst steht dabei als Ziel fest, mit den verfügbaren Mitteln so effizient umzugehen, dass mit ihnen mehr erreicht werden kann – und nichts verschwendet wird (Rationalisierung). Ist das nicht ausreichend, kann es zur Priorisierung kommen – eine Rangfolge wird gebildet. Manche Patient*innen müssen dann auf ihre, zunächst aufgeschobene, Behandlung warten. Wenn bestimmte Patient*innen aber überhaupt nicht behandelt werden, obwohl die Therapie einen medizinischen Nutzen hätte, wird das Rationierung genannt.
Das Ziel der Studie am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin ist es, die Mitarbeitenden in Krankenhäusern zu Wort kommen zu lassen. Wie schätzen sie die Probleme und Herausforderungen der Corona-Krise im Hinblick auf Ressourcenknappheit und -Verteilung im Krankenhaus ein? Was ist ihre Vorstellung von gerechter Ressourcenverteilung während dieser Pandemie? Welche Herausforderungen bestehen bei der Kommunikation und Umsetzung der Maßnahmen zur Ressourcenverteilung im Krankenhaus? Wir haben diese Fragen am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin unter die Lupe genommen und möchten hier bereits einige vorläufige Ergebnisse teilen.
Ergebnisse der Studie
Bisher haben wir 17 Mitarbeitende in fünf kleineren Krankenhäusern der Grund-und Regelversorgung in der Region Göttingen befragt. Wir haben auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Angestellten aus der Verwaltung und Geschäftsführung, dem pflegerischen und ärztlichen Personal aus unterschiedlichen Fachbereichen geachtet. Alle Interviews fanden telefonisch oder per Videokonferenz statt. Die aufgezeichneten Gespräche wurden verschriftlicht und anschließend inhaltlich analysiert.
Materielle Ressourcen
In allen befragten Gruppen spielte die Ressource Persönliche Schutzausrüstung erwartungsgemäß eine große Rolle. In der Anfangszeit der Pandemie wurde die Knappheit an Schutzmasken, Visieren und Kitteln als kritisch bewertet. Die Kliniken mussten große finanzielle Mittel aufwenden, um ihre Mitarbeitenden möglichst ausreichend auszustatten. Dabei wurden Prioritäten gesetzt: Damit insbesondere die Mitarbeitenden in Bereichen mit Kontakt zu (potenziellen) Covid-19-Patient*innen gut geschützt sind, gab es hier mehr Masken, Visiere und Kittel. Neben der Schutzausrüstung brachte auch das Testen auf Covid-19 Herausforderungen mit sich. Durch die begrenzten Kapazitäten im Krankenhaus war es nicht immer möglich, alle Patient*innen in einer Aufnahmestation zu isolieren, bis ein negatives PCR-Testergebnis vorlag. Insbesondere wenn keine typischen Covid-19-Symptome vorlagen, mussten die weniger verlässlichen Antigen-Schnelltests zur Überbrückung eingesetzt werden.
Personal und Kommunikation
Die Auswirkungen der Personalknappheit waren ein weiterer sehr wichtiger Punkt, der in den Interviews häufig angesprochen wurde. Insbesondere Pflegende haben berichtet, dass die Corona-Krise für sie eine besondere Arbeitsbelastung darstellte. Zu der klassischen pflegerischen Arbeit kamen zusätzliche Aufgaben, zum Beispiel in der Kontaktnachverfolgung und der Kommunikation mit den Gesundheitsämtern. Außerdem wurden sie vermehrt telefonische Ansprechpartner für die Angehörigen der Patient*innen, weil persönliche Besuche im Krankenhaus eingeschränkt wurden. Insbesondere die befragten Ärzt*innen schätzten zudem die Folgen der Ressourcenknappheit für die Patient*innen als bedenklich ein. Behandlungen für andere Erkrankungen als Covid-19, wie z.B. geplante Operationen und diagnostische Prozeduren mussten zeitweise aufgeschoben werden und Patient*innen hätten teilweise Sorgen gehabt, sich überhaupt ins Krankenhaus zu begeben.
Krankenhäuser sind komplexe Organisationen mit vielen unterschiedlichen Gruppen und Hierarchien. Die Kommunikation der Corona-bedingten Maßnahmen innerhalb des Krankenhauses war deshalb eine besondere Herausforderung. Damit Entscheidungen alle Mitarbeitenden erreichten, wurden neue Informationswege wie regelmäßige Newsletter und Rundmails geschaffen. Es wurde berichtet, dass es leider nicht immer gelungen sei, dass alle Entscheidungen in den unterschiedlichen Abteilungen und Berufsgruppen gleichermaßen mitgeteilt und mitgetragen wurden.
Bewertung und Ausblick
Viele der Interviewten bewerten die Umstrukturierungen, die im Krankenhaus durchgeführt wurden, trotz der großen Herausforderungen insgesamt als positiv. Die Belegschaft sei insgesamt – trotz Social Distancing – enger zusammengerückt. Man habe gemerkt, was in einer Krisensituation alles möglich ist und welche Probleme unter großen Anstrengungen und mit Teamwork zu bewältigen sind.
Für die Strukturen und Abläufe in den Krankenhäusern stellt die Corona-Krise eine echte Belastungsprobe dar. Hinsichtlich der Verteilung von knappen Ressourcen wurden einige Herausforderungen in dieser Studie unter die Lupe genommen. Die Sicht der Mitarbeitenden darauf kann nun besser dargestellt werden. Weitere Forschung ist nötig, um das Gesundheitswesen besser auf Krisen wie die Covid-19-Pandemie vorzubereiten.
Die ausführliche Auswertung des gesamten Projekts wird als Dissertation (medizinische Doktorarbeit) am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin veröffentlicht. Sie können zukünftige Publikationen der Projektwebsite entnehmen.
Einen herzlichen Dank an Clemens Schmidt für die Ausarbeitung dieses Beitrags.
Unter dem Titel „Daten – Selbst – Bestimmen. Chancen, Risiken und Konzepte digitalisierter Medizin“ wird am 26. Oktober 2021 von 19:30 bis 21:00 Uhr im Rahmen der „Zukunftsdiskurse“ die Zukunft des deutschen Gesundheitswesens diskutiert. Für die Diskussion werden drei Expert*innen aus den Bereichen Ethik, Rechtswissenschaften und Informatik zusammenkommen. In der ersten Podiumsdiskussion der Veranstaltungsreihe sollen Daten(schutz)-Fragen vor dem Hintergrund gegenwärtiger und zukünftiger Digitalisierung kritisch diskutiert werden: Was sind Gesundheitsdaten? Wem gehören sie? Wem und wie nützen sie? Und welche Macht bündelt sich im Besitz großer Datenmengen? Im Rahmen der Veranstaltung soll auch das Publikum die Möglichkeit bekommen, eigene Fragen an das Podium zu stellen und damit zivilgesellschaftliche Perspektiven in die Diskussion einzubringen.
Die Podiumsdiskussion wird online über Zoom stattfinden. Für die kostenlose Teilnahme genügt die Anmeldung über ein Online-Formular – ein Link zur Veranstaltung wird dann zeitnah bereitgestellt. Die Veranstaltung ist Teil des Projektes „Unser Gesundheitswesen von morgen: Digitalisierung – Künstliche Intelligenz – Diversität“, das bis Juni 2022 durch das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur aus Mitteln des Niedersächsischen Vorab gefördert wird. Die Leitung für das Projekt hat Prof. Dr. Silke Schicktanz vom Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universitätsmedizin Göttingen.
Verschiedene Fachbereiche zusammenbringen
In der Diskussion werden Expert*innen aus drei verschiedenen Fachbereichen aufeinandertreffen: Mit Kirsten Bock ist eine Datenschutzjuristin des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz vertreten. Frau Bock ist zudem Mitglied beim Forum der InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FifF), dessen Muster-Datenschutz-Folgenabschätzung (DSFA) für Tracing-Apps sie mitgestaltet hat. Für europäische Forschungsprojekte erstellt sie darüber hinaus Ethik-Gutachten für den Bereich digitale Dienste und Anwendung.
Mit ihr diskutieren wird unter anderem Dr. Attila Wohlbrandt. Der Ingenieruswissenschaftler und Projektmanager vom Hasso-Plattner-Institut in Potsdam ist verantwortlich für die wissenschaftliche Koordination des Projektes „smart4health“, welches es EU-Bürgern*innen ermöglicht, ihre Gesundheitsdaten EU-weit zu verwalten.
Dr. Patrik Hummel wird die Expert*innen-Runde komplettieren. Herr Hummel ist Assistenzprofessor an der TU Eindhoven und beschäftigt sich als Ethiker ausgiebig mit den Themen Datensouveränität und Dateneigentum, unter anderem im Projekt „DABIGO: Datensouveränität in klinischen Big-Data-Regimes. Ethische, rechtliche und Governance-Herausforderungen“. Darüber hinaus befasste er sich in seiner wissenschaftlichen Forschung intensiv mit Gerechtigkeitsfragen in der Datendebatte.