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Wollen Sie oder lieber nicht?

Ein internationales Gemeinschaftsprojekt untersuchte die Einstellung der Interessenvertreter zu Prädiktiven Tests und einer frühzeitigen Diagnose der Alzheimer-Krankheit

Die Verfügbarkeit eines Tests, der die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung der Alzheimer-Krankheit in den nächsten zehn Jahren vorhersagen könnte, klingt aufregend. Dank der jüngsten Fortschritte in der Erforschung von Biomarkern (biologischen Markern) und der Entwicklungen in der prädiktiven Medizin könnte es bald möglich sein, Personen mit einem hohen Risiko für die Entwicklung von spät einsetzender Alzheimer-Krankheit zu identifizieren, noch bevor die ersten Symptome auftreten. Die Nachfrage nach Tests nimmt zu, und Medienberichte werden höchstwahrscheinlich weiterhin ein solches öffentliches Interesse auslösen, obwohl es keine Heilung und keine wirksamen Behandlungsmöglichkeiten gibt, wobei letztere wahrscheinlich mit großen psychischen Belastungen einhergehen und Unsicherheiten hinsichtlich der Vorhersagekraft der Tests bestehen.

Die Verwendung von Biomarkern wird im klinischen Kontext noch nicht empfohlen. Die psychosozialen, ethischen und kulturellen Aspekte der Informationen über Demenzrisiko, einschließlich prädiktiver biomarkerbasierter Tests und biomarkerbasierter Formen der Frühdiagnose in präklinischen Stadien der Demenz, müssen noch erforscht werden. Unser Projekt „Warum Wissen oder Nicht-Wissen? Die Einstellungen von Interessenvertretern (Stakeholdern) zur Diagnose ‚Prodromale Demenz‘: Psychosoziale und ethische Auswirkungen im Interkulturellen Vergleich“ (Laufzeit: 2018 – 2021, Förderung: Deutsch-Israelischen Stiftung für Wissenschaftliche Forschung und Entwicklung, GIF) berühren diese drängenden Fragen.

Bild: shutterstock.com // A. Kiro

Was haben wir getan?

In unserer Studie untersuchten wir mit empirischen Methoden die Erfahrungen, Einstellungen und Bedenken der wichtigsten Interessengruppen (d. h. Personen mit leichten neurokognitiven Störungen, ihre Angehörigen, Familienmitglieder von Menschen mit Demenz,  Experten und Laien). Wir haben Fokusgruppen und Interviews mit den relevanten Stakeholder-Gruppen durchgeführt. Wir wollten herausfinden, ob die Unterschiede in der Einstellung zu AD-Tests auf kultureller Ebene variieren. Deshalb wurden in unsere Studie Teilnehmer*innen aus Deutschland und Israel einbezogen. Da viele Studien zu verschiedenen bioethischen Themen bereits gezeigt haben, dass die Einstellungen des Menschen durch die in den nationalen Kontexten verankerten kulturellen Werte beeinflusst werden können, haben wir uns zum kulturellen Vergleich auf Deutschland und Israel bezogen.

Unsere Ergebnisse in Kürze

Wir ermittelten psychosoziale Aspekte (z.B. Stigmatisierung), ethische Aspekte (z.B. moralische Beweggründe, d.h. grundlegende moralischen Haltungen oder Meinungen) und kulturelle Aspekte (z.B. Wechselbeziehungen, Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den verschiedenen Interessengruppen auf nationaler und länderübergreifender Ebene) von Informationen über Demenzrisiken (d.h. prädiktive Tests und eine sehr frühe Diagnose im präklinischen Stadium der Alzheimer-Krankheit). Unsere Ergebnisse zeigen, dass es in beiden Ländern keine starke Tendenz zugunsten von prädiktiven Tests und Frühdiagnosen gibt. Die Entscheidungen und Einstellungen der oben genannten Interessengruppen wurden stark von der Angst vor der Krankheit und dem Fehlen einer Heilung (Vergeblichkeit) bestimmt. Wir stellten aber auch einige Unterschiede fest, die sowohl auf kultureller Ebene als auch zwischen den Gruppen variieren, wie z.B. eine größere Betonung der Autonomie bei den deutschen Teilnehmer*innen und eine größere Betonung des Vertrauens in die eigene Familie bei den israelischen Teilnehmer*innen.

Was kommt als Nächstes?

Unsere Studie unterstreicht die Bedeutung einer detaillierten, multiprofessionellen Beratung für die zukünftige Lebensplanung und die Information der Personen, die einen prädiktiven Test nutzen möchten, sowie ihrer Familien.

Das Fazit unserer Studie lautet, dass prädiktive Informationen mit moralischen und psychosozialen Dilemmata einhergehen. Einerseits kann es von Vorteil sein, darüber informiert zu werden, dass man ein Risiko hat (z.B. für Planung des späteren Lebens durch die Organisation der Pflege, Vorbereitung von Patientenverfügungen und frühzeitige Unterstützung), andererseits kann es auch schädlich sein (z.B. durch Stigmatisierung, Diskriminierung). Die Diskussion über ethische und rechtliche Fragen, wie und wann Informationen über prädiktive Risiken offengelegt werden sollen, geht weiter. Es bestehen keine klaren Leitlinien, die medizinischen Fachkräften detaillierte Empfehlungen geben sollten für die Offenlegung der auf Biomarkern basierenden Tests für die Früherkennung der Alzheimer-Krankheit. Mit dem technologischen Fortschritt wird die Anwendung von Biomarkern wahrscheinlich bald Teil der täglichen klinischen Routine werden. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, dass das Gesundheitssystem auf solche Situationen vorbereitet ist (z.B. durch die Einrichtung multiprofessioneller Beratungsdienste, die Bedeutung der Kommunikation, den Bedarf an Forschung usw.). Wir hoffen, dass die empirischen Ergebnisse unserer Studie in die Entwicklung von Leitlinien für die Kommunikation von Demenzrisiken im klinischen Umfeld einfließen werden.

Jahrestagung, Göttingen, Juni 2019. Vlnr.: Dr. Zümrüt Alpinar Sencan (Projektkoordinatorin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin), Prof. Dr. Silke Schicktanz (Leiterin des deutschen Forschungsteams), Prof. Dr. Perla Werner (Leiterin des israelischen Forschungsteams), Dr. Natalie Ulitsa (Wissenschaftliche Mitarbeiterin)

Das Projekt wurde in Zusammenarbeit von Prof. Silke Schicktanz, Dr. Zümrüt Alpinar Sencan von der Universitätsmedizin Göttingen, Deutschland, und Prof. Perla Werner, Dr. Natalie Ulitsa von der Universität Haifa, Israel, durchgeführt. Die Ergebnisse sind von unschätzbarem Wert, denn es wurden mehrere hochwertige Publikationen veröffentlicht und ein internationales Online-Symposium veranstaltet, auf dem die aktuelle Demenzforschung, Vorhersage und Risikominderung diskutiert werden. (Detaillierte Informationen finden Sie unter https://egmed.uni-goettingen.de/de/forschung/altersmedizin-demenz//)

Vielen Dank an Dr. Zümrüt Alpinar Sencan für die Ausarbeitung dieses Beitrags!